Sechsundzwanzigster Ranhadam. Das Schwellungs-, Zahnarzt-, Reise- und Arbeitsjournal des Freitags, dem 10. Juni 2016. Vor dem Erfurter Festival. Mit, nachgetragen, Dietmar Daths Für immer immer in Honig (erster Lektüreeindruck).


[Arbeitswohnung, 7.37 Uhr]

Die zweite Nacht, in der ich kaum schlief. Nicht, daß die Schmerzmittel – ich bin nicht weich im Nehmen, aber ohne ging‘s echt nicht mehr… – nicht also, daß sie nicht, wenn auch nur in doppelter Dosis, gewirkt hätten; doch es war, als würde ich ihrethalber von Wogen Adrenalins geflutet. So schlief ich erst gegen halb fünf tief ein, erwachte dann gegen sieben; im Spiegel anzusehen, um zu wissen, wie ich grad ausseh, brauchte ich eigentlich nicht. Aber das Selfie ergibt einen grotesken Anblick. Ich frage mich, wie ich so auftreten soll >>>> heute abend, morgen abend, denn die Intonation werd ich nicht ganz im Griff haben, mal davon abgesehen, daß diese Schwellung meine Eitelkeit kränkt.
Um 14 Uhr geht die SBahn zum Zug. Abzusagen kann ich mir finanziell auf keinen Fall leisten; es wird ab September eh katastrophal. Und ich sag ja eh nie ab. Is‘ ja nur Schmerz, sag ich mir.
Allora, nochmal zum Zahnarzt. Mein Gefühl behauptet entschieden, der Zahn müsse raus. Nur daß er dummerweise unter einer Brücke steckt, die dann also auch erstmal rausmuß. Doch so kann‘s nicht bleiben. Andernfalls sitze ich morgen früh in Erfurt beim Notarzt. Da habe ich den Vormittag wieder frei.
Da heute, wegen des Zahnarztes, >>>> der Sport ausfallen muß, es wird eh zeitlich eng, will ich morgen früh dort meine zwei Stunden schwimmen; oder ich nehme das Laufzeug mit, was wiederum bedeutete, doch den großen Rucksack zu schleppen. Will ich eigentlich vermeiden. Nur Badehose und Schwimmbrille kann ich auch in die Manteltasche stecken; ein Handtuch nehm ich mir aus dem Hotel mit. Ist übrigens in Erfurt noch teurer als in Berlin: 4,20 EUR für zwei Stunden inkl. Duschen und Umziehen statt 5,50 für solange man will; also 8,40, wenn ich mein Pensum trainieren will. Ich könnte in Erfurt allerdings auch zu McFit, das kostete mich außer der ohnedies bezahlten Monatsgebühr nichts. Aber dann brauche ich wieder den Rucksack…
Auch an Béart werde ich heute früh nicht mehr kommen, allenfalls, daß ich im Zug schreiben kann, skizzieren, weiterentwickeln. Aber ich will auch die Lesungen vorbereiten und für heute abend noch ein wenig Dath lesen.

Jedenfalls Chaos mal wieder. Leben halt. Wobei ich mit dem Schmerz ganz gut klarkomm; mehr nervt dieser Schlafentzug. Irre müde sein und dennoch kein Auge zutun zu können. Vielleicht hat der Zahnarzt ein Notmedikament. Die >>>> Ibus schlagen erst ab 600 mg an, ebenso Paracetamol, das aber, in Menge genommen, ein extrem gefährliches Zeug ist. Und Aspirin vertrage ich nicht; ein einziges Tablettchen, und ich werde zum Ganzkörperstreusel Und dann stellen Sie sich diese, hätte meine Großmutter gesagt, „Backe“ mal überdies verpickelt vor:


Nee danke.
Auch mich zu rasieren, gleich, wird lustig werden. Es ist noch zu packen, außerdem abzuwaschen. Dann halt zum Doktor, der gestern ein TShirt ausgesprochen prophetischen Charakters trug: mit einer Zange, die einen Zahn faßt. Womit ich erneut >>>> beim Wolpertinger wäre:
Zu Wien kuriert ich einen Mann,
widewidewitt, bumm,bumm.
Der hatte einen hohlen Zahn,
widewidewitt, bumm,bumm.
Ich schoß ihn aus mit der Pistol,
oje, wie ist dem Mann so wohl.
*

Übrigens habe ich die anonyme Kommentarfunktion wieder deaktiviert, weil mich dieser US-amerikanische Autoversicherer ziemlich nervt, dessen Computer ständig seine Werbung in Der Dschungel unterbringt, ohne daß ich selbst ein Auto überhaupt habe. Ja, wenn’s denn ein Autorversicherer wär! – Also bitte registrieren Sie sich, wenn Sie kommentieren möchten. Is‘ ja nur ein kurzer Vorgang. Grazie.

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(10.31 Uhr)
Also. Innen die Wangentasche aufgeschnitten, Eiter abgesaugt. Er nennt es „die Entzündung entlasten“. Es wird tatsächlich auf eine Wurzelspitzenresektion hinauslaufen, die von der Seite vorgenommen werden muß; so wird die Brücke nicht gefährdet. Die Information löste in mir große Erleichterung aus, weil Brückenbruch und neue Brücke Kosten auf mich hätten zukommen lassen, von denn ich gar wüßte, wie ich sie hätte decken sollen.
Diagnose: Es steckt in dem Zahn ein winziger abgestorbener Wurzelrest, der in eine Verwesung übergegangen ist, die sich sehr schnell entzündet. Sowas mag kein gesunder Körper. Also schickt er viel Blut dahin, um die Entzündung zu bekämpfen. Davon schwellen Zahn- und Wangenfleisch an. Was schmerzt, übrigens, ist die Haut um den Knochen, in dem die Entzündung ihren Platz will; sie drückt ihn sozusagen – oder nicht nur sozusagen – auseinander. (Hab mal wieder viel gelernt, bin aber auch in dem bestätigt, was man sich allein durch klares Nachdenken selbst erschließen kann.)
Antibiotikum nun erstmal, sechs Tage lang, alle acht Stunden eine Tablette. „Weiterbehandeln kann man den Zahn erst, wenn die Entzündung abgeklungen ist“ – ich solle aber auch besser zu einem Spezialisten gehen, an den ich überwiesen würde. „Ihr könnte das n i c h t?“ „Theoretisch schon. Im Studium lernen wir‘s alle. Aber ich rate Dir, zu jemandem zu gehen, der oder die sowas täglich macht, genug Erfahrung und Routine hat. Keine Sorge, ich habe genügend Adressen.“
Daß die Schwellung bis heute abend zurückgegangen sei, könne er mir nicht garantieren. „Aber auf keinen Fall, solange sie noch da ist, Sport treiben! Denn bei Anstrengung pumpt der Körper n o c h mehr Blut durchs System, und die Schwellung würde logischerweise wieder größer.“ „Darf ich denn morgen wenigstens schwimmen?“ „Mach‘s davon abhängig, wie die Schwellung aussieht, ok?“
So hat sich die Erfurter Trainingsfrage von sich aus gelöst.
Paßt mir aber nicht, nicht so.
Nun gut, ich darf immerhin weiter meinen Latte macchiato und vor allem auch Espresso trinken, „is‘ sogar ganz gut, weil er die Adern etwas verengt“.
Was die nächtlichen Adrenalinschübe ausgelöst hat, konnte er allerdings so wenig wie nachher die Apothekerin beantworten; am Ibu selbst liegt‘s nicht. „Hatten Sie vielleicht Angst vor dem Eingriff?“ wagte sie zu fragen, allerdings charmant und mitfühlend. Ich sah sie dennoch an wie ein Auerochs.
„Und bitte erstmal was essen, bevor Sie die Tabletten einnehmen. Auf die Zangeschichte noch eine Magenverstimmung obendrauf wäre ein bißchen kontraproduktiv.“ – Als hätte sie mir angesehen, daß ich normalerweise erst am frühen Nachmittag die erste, und auch da nur eine kleine, Mahlzeit zu mir nehme.
Gut, für Erfurt habe ich sowieso gedacht, daß ich mal wieder frühstücke, einfach, um das Buffet auszunutzen, und auch aus Sentimentalität: morgens ein Brötchen mit Butter und Salz und einem weichgekochten Ei. Es sind ja auch alle Autor:inn:en in einem Haus zusammen, da plaudert man gewiß.

Im Wartezimmer Daths >>>> Für immer in Honig angefangen, endlich. Wollte ich immer schon. Deutlicher früher Pynchonton, locker, dennoch komplex in den Sätzen, gerne etwas witzelnd. Macht von der ersten Seite an Spaß – auch wenn ich so gut wie keine Anspielung auf die Popmusiken verstehe… also ich verstehe sie schon, kann aber keine sinnlichen (Erinnerungs-)Eindrücke mit ihnen verbinden. Dennoch machen sie mir Spaß, sie sind romanästhetisch völlig einleuchtend, ‚manifest‘ muß ich‘s nennen.
Später ganz sicher mehr dazu; ‚später‘ meint in den kommenden Tagen (und vielleicht Wochen). Immerhin sind‘s, in der >>>> Verbrecherausgabe, 1032 Seiten:


Daths >>>> Wolpertinger, wenn Sie so wollen.

So, die Küche in Ordnung bringen, dann zusammenpacken. Wenn dann noch Zeit bleibt, ein bißchen Béart ff. Ich melde mich wieder aus dem Hotel, indes vielleicht erst morgen.

ANH

2 thoughts on “Sechsundzwanzigster Ranhadam. Das Schwellungs-, Zahnarzt-, Reise- und Arbeitsjournal des Freitags, dem 10. Juni 2016. Vor dem Erfurter Festival. Mit, nachgetragen, Dietmar Daths Für immer immer in Honig (erster Lektüreeindruck).

  1. (Hab eben nachgeholt, was vorhin nicht zu schaffen war: noch einmal Korrektur zu lesen. Jetzt kann ich, ohne mich schämen zu müssen, dieses Abreitsjournal mit meiner gekürzelten Imprimatur versehen:

    )

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