Das erste Erfurter Arbeitsjournal. Der siebenundzwanzigste Ranhadam, am Sonnabend nämlich des 11. Junis 2016.


[Alt Erfurt, 304. 6.54 Uhr
]

Auf Arbeiter ist man hier nicht eingestellt; also gibt es im Zimmer keinen Schreibplatz, es sei denn, Sie funktionieren das Rundtischchen um und nutzen einen der beiden ziemlich schweren Sessel – „Club“sessel hätte sie meine Großmutter genannt – als zusätzliche Ablagefläche — wie ich’s, siehe das Fotochen hierüber, tat. Auch ist die WLan-Verbindung schlecht, saumäßig, muß man sagen, was mich freilich nicht stört. Mein Vodafonestick funktioniert prächtig. Ich hätte auch meine transportable sehr kleine Speedbox nehmen können; dann rödelte die Verbindung aber auf meiner iPhone-Flat herum. – Im übrigen, abgesehen noch davon, daß es wochenends vor acht Uhr keinen Kaffee gibt, ist das Zimmer angenehm.
Vor allem: Die erste seit drei Nächten wirklich geschlafen. Bis halb eins gewartet, bis die dritte Ibu, nein, vierte, des Tages anschlug, dann fielen mir die Augen quasi von selbst zu, und ich schlief bis halb sieben tatsächlich durch; bin zwar mit noch immer geschwollener „Backe“ aufgewacht, aber habe keine Schmerzen mehr momentan. Was mich echt überrascht, ich kann‘s auch noch gar nicht ganz glauben. Also das Antibiotikum wirkt. Und wenn ich bis heute abend nicht mehr wie >>>> Boris Karloff aussehen würde, wäre das ein besonders ziemlicher Zusatzgewinn.

*

Also >>>> das Festival:
Die Sonne prallte, in den Hallen der alten Brauerei ist es dennoch kühl. Das wurde es abends dann allerdings auch draußen:


Vorher saßen wir lange im Freien, mein Kieferknochen pulste, ich nahm ranhadamsch drei Rhabarberschorlen zu mir, rauchte immerhin. Dietmar Dath trudelte erst gegen halb zwanzig Uhr ein, habe sich zwei Stunden lang durch die Stadt treiben lassen, noch ohne Stadtplan. Statt um acht fingen wir um Viertel vor neun an. Da waren die Reihen tatsächlich ganz gut gefüllt.
Er las, wie angekündigt, exakte vierzig Minuten, witzig, frech, hintergründig provozierend, dann unser Gespräch: Was das denn eigentlich sei, Unlesbarkeit? was man für so etwas halte? Funktion der Witze, bzw. der Scherze in seinen Texten. „Ich merke so, ob das Publikum noch da ist… – aha, es reagiert.“ (Nächstes Lachen im Publikum; er ist rhetorisch perfekt.)
Sein Beharren auf Marx, gleichzeitig Skepsis gegenüber ideologischen Menschenbildern. Enorm schnell im Denken, žižekverwandt, schöpft er mit beiden Händen Bildung gegen die Enge. Es macht Freude, mit ihm zu sprechen, auch wenn ich zahnschmerzhalber ein wenig gezügelt in meinem eigenen Temperament war.
Und wie nahezu immer: Nach der Veranstaltung verließ er schnell den Ort, ein scheuer Mann imgrunde, „man hat den Menschen etwas mitzuteilen, aber in der Kunst zieht man sich dafür vor ihnen zurück“.Anders ich, der den Kontakt ja immer versucht, auch gegen besseres Wissen, das eigentlich ein schlechteres ist. Doch um etwas nach 23 Uhr wurde der Zahnschmerz wieder sehr präsent, und ich wollte die letzte Tablette gegen ihn s o einwerfen, daß ihre Wirkung mit dem Schlafengehen harmonierte, bzw. zu schlafen überhaupt erst ermöglichte.
Was mir, siehe oben Absatz 2, gelang.
Doch vorher noch mit drei Studentinnen beisammengestanden, deren eine davon erzählte, wie gern sie ihren Abschluß mit einer Arbeit zur Phantastischen Literatur machte; allein, die Professoren sähen’s nicht gern. Mithin das alte deutsche Problem seit ‘45. Phantastische Literatur, um von „Science Fiction“ zu schweigen, gilt als è-bè, misfits. Darauf bezog sich auch schon Daths und mein Gespräch: gegen die knapp 150 Jahre „Realismus“ stehen 6000 der phantastischen Erzählkonzepte. Aber in Deutschland sieht man das nicht, will es nicht sehen. Eine Art >>>> Verschiebung, meine ich, Bußverschiebung nicht als Verrarbeitung sondern A b w e h r von Schuld(gefühlen).
Es wird aber allmählich besser, hab ich den Eindruck, sagen wir: lockerer.
Ich werde heute abend, bei meiner Andersweltlesung, diesen Nexus noch einmal ansprechen und auf meine drei >>>> Essays zur Phantastik hinweisen, die tatsächlich auf dem Büchertisch vertreten sind:


Im übrigen freue ich mich drauf, mal wieder mit Furor zu lesen, wahrscheinlich die beiden expressiven Anfangstableaux aus >>>> Thetis und >>>> Argo, sowie dazwischen >>>> Buenos Aires‘ Garraff-Fantasie. Etwas die Zusammenhänge erläutern, besonders auch auf die „Geschichten“ hinweisen, denen die Tableaux ja nur der Boden sind.

(9.05 Uhr)
Seit Wochen zum ersten Mal wieder gefrühstückt. Immer noch ist keine Schmerztablette nötig. Aber jetzt bin ich derart gestopft/voll, daß ich arge Zweifel daran habe, ob ich heute wirklich zu meinen zwei Stunden Dauerschwimmen radeln werde. Gut, ist noch Zeit; die Veranstaltungen des Festivals beginnen erst um 15.30 Uhr. Auf jeden Fall werde ich ein wenig an Béart XVII weiterschreiben und weiter in Daths immer schönerem >>>> Für immer in Honig weiterlesen. Übrigens habe ich ihm gestern >>>> Christopher Eckers Madonna ans Herz gelegt. Ich glaube, das Buch wird ihn ausgesprochen überraschen und – begeistern:


‚Einer m e h r‘, wird er denken.

Wie auch immer, hier eben noch >>>> das gesamte heutige Erfurt-Programm .



Diese von jungen Leuten organisierten Festivals sind so viel angenehmer als sämtliche von pfründesicheren Betrieblern szenefest organisierten >>>> „Events“! egal, ob ich mit meinen Anzügen und Krawatten eigentlich dahinpasse; in die „Events“ passe ich halt auch nicht.

2 thoughts on “Das erste Erfurter Arbeitsjournal. Der siebenundzwanzigste Ranhadam, am Sonnabend nämlich des 11. Junis 2016.

  1. Bei alledem aber bitte Bruno Lampe >>>> nicht vergessen. Pfiffig, wie er auf einem (möglicherweise gewollten) Facebook-Mißverständnis zu Beckett überleitet.
    Außerdem ist das italienische Idiom von „Die Katze läßt das Mausen nicht“, nämlich „Perdono il pelo ma non il vizio“ viel mehrdeutiger als das unsere: Sie verlieren das Haar, indes das Laster n i c h t.“

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