Das Arbeitsjournal des Sonntags, dem 4. Dezember 2016.


[Arbeitswohnung, 6.33 Uhr
Poulenc, Gespräche der Karmeliterinnen
(live-Mitschnitt Komische Oper Berlin 2011)]

Daß ich heute früh – offenbar unbewußt – im Katholizismus >>>> verblieb, nunmehr in der Musikauswahl, wurde mir eben erst klar, da ich es niederschreibe. Es hat schon etwas Unheimliches, das sich gar nicht so sehr, in meinen Gefühlen, von >>>> Bruno Lampes heutiger Erzählung unterscheidet. Etwas (oder sich) durch die Spinnweben der Zeit(en) hinabtragen, so habe ich seinen quasi randlosen, wie eine Luft flanierend-poetischen Text bei Facebook verlinkt; ich suche da immer nach einer Formulierung, die zur Überschrift noch etwas hinzugibt – lassen Sie es mich, Freundin, einen Äther nennen. Noch Albert Einstein hat an einen solchen als an ein universales Trägermedium geglaubt – was ihn durchaus nicht sehr von jenen Menschen unterscheidet, die auf ihre Handies Sticker zur Abwehr von Elektrosmog kleben, beziehungsweise sollen sie ihn, es sind im eigentlichen Sinne Amulette, gleichsam aufsaugen. So tragen wir auch heute noch Glückszeichen, die Zeichen zur Herbeilockung von Glück sind: schimmernde Fenster im Lebkuchenhaus, wenn wir durch den dunklen Wald unsres Ausgesetztseins verirrt sind. Durch einen dunklen Wald verirrt sein ist eine sehr exakte Formulierung gerade im Doppelsinn des durch etwas verirrt seins.
Um acht wird Mme LaPutz wieder hier sein, spätestens um zehn werd ich vertrieben werden. Also duschen, ich, jetzt gleich, und mich rasieren, der feinen Barthärchen wegen: vor dem Putzen, das allerdings auch des Ofens wegen nötig ist. Immer, wenn ich den Aschekasten leere, steigen feine Wölkchen auf, die sich über Tische, Bücher, Sitze legen. Für elektronische Geräte nicht so der Pfiff. Die mögen aber auch kein Wasser, das wiederum für uns | lebensnötig ist. – Ins Beakers runter, dort weiter mit dem tabellarischen Parallelhandlungsstrang. Vielleicht einen Gang über den Flohmarkt im Mauerpark anschließen; ich brauch ein neues Portomonnaie. Könnt ich mir freilich zu Weihnachten wünschen; aber meist sind dieserart Geschenke nicht wirklich dienlich. Man hat seine Eigenheiten bei Gefäßen; z.B. müßte es auch meinen alten Lappen, den Führerschein von 1976, mit aufnehmen können; die meisten Portomonnaies, wenn sie nicht auftragen, sind auf cards normiert oder eben so groß, daß sie nicht in die hintere Hosentasche passen oder drinnen drücken, nach außen, wenn man sich setzt.
Abends Weihnachtsmarkt mit der Familie.
Vielleicht die Flugbuchung dazwischen; ich kam gestern nicht weiter, staunte nur, daß die Preise durchaus nicht nur steigen, bisweilen sogar fallen; aber bei diesen Flügen kommen plötzlich Aufenthalte in, sagen wir, Hawaii hinzu. So daß man sich um Visa kümmern muß.
Alle Politik, um die ich mich gerade kümmre, wurde mit Blut geschrieben, aber unkatholisch; das Katholische war immer nur Vorschub. >>>> Walter Benjamins Satz, und wie er auf ihn kam, wölbt sich aus meinen Lektüren wie ein Untoter heraus, der wiederaufersteht. Das Uralte.
Ich fragte mich beim Aufstehen, wieso ich an etwas hafte, das doch objektiv-faktisch gar keinen Platz in unserer Welt mehr hat. Zu haben scheint, denke ich aber: daß es um so mächtiger weiterwirkt, wenn wir es zu sehr vergessen, um noch Abwehrkräfte gegen es zu haben.
Was wissen denn w i r?
Die Adenauerverträge sind weiterhin unter Verschluß. Die zur Wiederbewaffnung führten.
Das Volk, was immer es sei, soll besser nichts wissen. Vielleicht ist‘s wirklich sinnvoll so.
„Du hast ja keine Ahnung, wie oft ich für Genscher den Finger krummgemacht habe“: Satz eines alten Brokerkollegen, der, als er vierzig wurde, nicht mehr nach Beirut gewollt hat, das damals, in den Endachtzigern, noch als Zerstörtes Umkämpfte.
In gewissem Sinn sind Rituale Realisierungen von Mythen.
Ich erfinde Mythen. Wobei ich spüre, daß ich sie nicht so sehr empfinde als ihnen, als etwas Tatsächliches, erher nach-,ecco!,spüre, sie aufspüre. Und dann umgestalte, ihnen ihre zeitgenössische Form gebe – eine ihrer zeitgenössischen Formen.
So auch in dem Roman jetzt.
Die Künste kennen viele Formen. Merken Sie es, Freundin?: Mein Haus hat viele Wohnungen. Wie es auch >>>> Thomas Erdelmeier gesagt hat, als wir ihn in seinem Atelier besuchten: „Ein europäischer Maler muß mindestens einmal einen Christus gemalt haben.“ In der Tat wirkt die Serie noch jetzt in mir nach. Erdelmeier hat einen Anubis dazugetan, ein, wenn Sie so wollen, Mittelbild; wir könnten es auch „Tafel“ nennen. Ich meine, wär es auf Holz gemalt, das wir uns nun ‚einfach‘ denken müssen. Dies entspricht ziemlich genau auch meiner Arbeitsweise: etwas umdenken. Womit ich wieder beim Nukleus aller Kunst wäre, der perversen Bewegung.
Wenn ich das Friedrichbuch denn eines Tages angehen werde, das „wenn“ betont, wird es ganz sicher kein historischer Roman werden. Mich interessiert mythische, nicht faktische Wahrheit. Sie allerdings muß immer den Rahmen bilden, dem ich die, sagen wir, Legenden einflöße. Deshalb auch jetzt wieder die zeitintensive Genauigkeit meiner Kenntnisbildung.
Es wirkt auch das, was wir nicht merken; es wirkt vielleicht sogar stärker dann – siehe oben: fehlende Abwehrinstanzen. Hat, außer >>>> Preußer, in >>>> Thetis irgendjemand den Homer gemerkt und in >>>> Argo irgendjemand, außer >>>> Eickmeyer, Goethes Achilleïs? In aller Regel war es so, daß ich alles selber sagen mußte: sprechen in derart leere Räume, daß es einen Widerhall gar nicht geben konnte | noch kann.

So, ich vergrabe mich mal wieder in meine Recherchelektüre, muß auch zusammenpacken, um Mme LaPutz den Raum zu geben, den ihre Tätigkeit braucht. Haben Sie einen guten Tag.

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[Martin, Le Vin Herbé]

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