Zur Bundestagswahl 2017. Im Arbeitsjournal des Montags, den 25. September 2017. Kluger Text von Diez bei Spiegel online.


[Arbeitsjournal, 6.58 Uhr]

Noch bin ich gefüllt >>>> von dieser Uraufführung. Dann habe ich meine Kreuzchen tatsächlich bei der CDU gemacht; es waren taktische Kreuzchen. Um nichts anderes konnte es gehen, als der objektiv absehbaren Stärkung der ich möchte nicht mal den Namen schreiben mich entgegenzustemmen. Es werden einige Menschen so gedacht haben, sonst sähe das Ergebnis noch schlimmer aus. Daß wir jetzt illibertäre und intolerante Leute in den Rundfunkräten und einigen anderen Institutionen der Kultur! sitzen haben werden, ist grauslich. Wir können nur noch hoffen, daß die Kraft des Föderalismus hier gegen das Schlimmste Milderung bewirken wird: eben in den einzelnen Ländern (in manchen freilich nicht; die Differenzen werden sich verstärken).
Stellen Sie sich vor, verehrte Freundin, daß jemand, wie bisweilen ich es tue, als Motto eine Sure über ein Gedicht stellt – und das darf dann nicht gesendet werden. Ah, ich kenne Sie, bin ja Ihr >>>> Admirador … also Sie werden n i c h t sagen: Ist ja nur eine Lappalie… Nein, Ihnen ist genau bewußt, was so etwas bedeutet. Selbst >>>> Barenboim-Saids grandiose Akademie könnte gefährdet werden.
Wie es zu dem Entsetzlichen kommen konnte, hat heute Georg Diez >>>> sehr genau erzählt. Jaja, er nennt sogar das richtige Wort: herbeigetalkt. Meinerseits ich habe schon vor Jahren, als man die desparaten „rechten“ Vandalen rechts eben nannte, anstatt desparat, genau diese Dynamik zur Sprache gebracht. Ein übriges hat der kulturelle Mainstream getan und damit die öffentliche Abkehr von komplexer „schwieriger“ Kunst zugunsten eines planen sogenannten Realismus, die Verzahnung von Kulturindustrie und Marketing. Wer nicht differenziert liest und hört, fällt dem Populismus selbst dann anheim, wenn er (Verzeihung: oder sie) ihn ablehnt. Er (oder halt sie) fördert ihn genauso, wie es die von Diez angeklagten Talkmaster:innen taten. Man stelle sich vor, es wären so oft in die Shows >>>> die Piraten geholt worden anstelle der Rechtsnationalen… Nein, die, also jene, wollte man dort nicht oder nur, wenn auch ein Rechter dabeisaß. Die Piraten zielen und zielten auf die persönlich-allgemeine Verfügungsgewalt über das mächtigste Medium unserer Zeit; daß das Internet dies aber sei, wollten die Vertreter der anderen Medien nicht haben. Es wäre einem Eingeständnis des eigenen Machtverlustes und dessen Beförderung gleichgekommen. Dann besser die Rechte…
Ecco. Es war auch ein Kampf um Deutungshoheit. Von dem hat die Rechte profitiert. Auch er wurde in Der Dschungel immer wieder ins Auge genommen. Und nun. haben.
wir.
den.
Salat.

Ganz unabhängig davon – na gut, fast ganz unabhängig davon –, welcher Bundestag sich jetzt zusammenfinden wird, wird es fortan darauf ankommen, öffentlich immer politisch zu sein, das heißt: so auch aufzutreten. In jedem Gespräch, bei jeder Freundesrunde, in jeder Versammlung. Das politische Gespräch muß Einzug halten in die Fußball- bis Garten- und Kleintiervereine. Es sollte selbst an der Kasse der Supermärkte stattfinden. Jede und jeder muß sich fragen lassen – und selbst fragen –, wen hast du gewählt und warum. Erkläre es mir. – Früher mal, als ich noch studierte, nannten wir es den politischen Diskurs.
Wir brauchen eine permanente Agora. Und daß man noch weiß, was das ist. Da kneife niemand sich mit der Bemerkung weg, Politik interessiert mich nicht. Jede und jeder, die und der fortan so etwas sagt, sieht bei brennenden Heimen weg und steht doch gleich daneben. Segelt hübsch übers Meer und sieht die Menschen ertrinken. Nun gut, dann öffnen wir mal den Champagner. Wird aber zu laut um Hilfe geschrien, drehn wir den Ghettoblaster auf; dann sind Urlaub und Törn nicht weiter gestört, sogar mit dramatischen Bildern stummfilmsch garniert. So schlage ich Kreuzfahrten, >>>> für die ich bekanntlich Experte bin, in Seenotzonen vor. Da wird das Geschäft gewaltig boomen, noch mehr als so schon. Wir sitzen dann auf der Aida auf unsrem Balkönchen und schaun dem Sterben freundlich zu. Keine Frage, selbst in diesem umtobten Markt eine waschechte Lücke.

Kann man im Herzen Pirat sein und dennoch CDU wählen? Ich habe mir diese beklemmende Frage gestern mit ja beantwortet, beantworten müssen. Aber ich träume von einem vereinten, starken Europa der Verschiedenheiten, träume davon, daß es eben diese sind und das Bewußtsein von ihnen, die es befördern und ermöglichen werden. Von einem Europa, das die NATO verläßt – etwas, das die CDU nun ganz sicher nicht will – und sich seiner Herkunft bewußt ist. Einem Europa, das genau weiß, wie nahe seine und des Nahen Ostens Geschichte, zu der auch die des Islams gehört. Einem Europa, das sich kulturell definiert und nicht allein über Wirtschaftsmächte, so daß, wenn jemand ernstlich auf die Idee kommt, Griechenland auszuschließen, ein allgemeines Lachen losbricht, weil sie den Menschen so bizarr vorkommt. Einem Europa, das seine Kraft gerade aus seinen Separisten gewinnt, aus den Katalanen zum Beispiel, den Iren, vielleicht bald den Schotten und Walisern und meinetwegen den Bayern und Sachsen und Schwaben – die sich alle, kulturell geerdet, föderalistisch zusammentaten. Kurz, ich glaube an ein Europa, dessen Grundkraft die Kunst ist – so daß wir, jede und jeder einzelne von uns, Ambivalenzen und, ergänzt mich soeben die Löwin, Gleichzeitigkeiten auszuhalten lernen, ja gerade sie als Quelle unserer Kraft begreifen.
Ach Freundin, ich weiß! Glühende Worte am nebligen Morgen eines so nüchternen Tages, daß, um mit Aragon zu sprechen, >>>> die Uhren den Mut verlieren könnten.

Seien Sie dennoch, wenn auch zaghaft umarmt.
So zaghaft beginn ich mein Tagwerk nun.
ANH

2 thoughts on “Zur Bundestagswahl 2017. Im Arbeitsjournal des Montags, den 25. September 2017. Kluger Text von Diez bei Spiegel online.

  1. Soeben im Gespräch: „Mir dreht es auch immer den Magen um, wenn gesagt wird, der Islam gehöre zu Deutschland.“
    „Die Relation ist falsch. Sowie du sagst, Der Islam gehört zu Europa, wird das Bild weiter und überhaupt erst genau. Denn das kann niemand bestreiten. Es gab vergleichsweise tolerante Zeiten des Islams – so, wie es extrem intolerante Zeiten im Christentum gab -; über islamische Gelehrte und Künstler wurden die großen Griechen uns übermittelt, deren Schriften vom Christentum verbannt worden waren; sie haben uns unsere Herkunft bewahrt, stehen am Beginn Europas mit – auch wenn Islami selbst es heut nicht mehr wissen. Und immer wieder sind Faszination und Einfluß zu gegenseitigem Gewinn neu aufgeblüht.“

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