Einen Aufhänger suchte ich für den heutigen Tag nach der langen Pause, die wegen der ‘Überstunden’ beim Anfertigen von Gebrauchstexten wenig Zeit für anderes ließ, auch die Lektüre litt. Dunkel entsann ich mich einer Tieck-Novelle: Der 15. November. Beim Herausholen aus dem Regal riß fast ganz der Rücken des Pappbandes ab. Rütten & Loening Verlag, Potsdam, ohne Jahreszahl, aus der Reihe ‘Trösteinsamkeit. Eine Sammlung deutscher Meistererzählungen’. Aus ihm heraus fiel sogleich ein Fünf-Mark-Schein (Staatsbank der DDR, 1975, Seriennummer JI 620623) mit dem Porträt des Thomas Müntzer.
Es stieg herauf ein Nachmittag bei der einen, sagen wir mal zweitärmsten Familie des Dorfes, gleich dahinter folgte gleich die sehr viel kleinere Behausung der ärmsten Familie, man nannte sie wohl auch die Fußballmannschaft, denn die hatten elf Kinder und lebten auf engstem Raum, so sehr, daß einmal einer von ihnen in einer Dorfschulpause versuchte, an mir, also an meinem Körper vorzumachen, wie der Alte auf die Alte steigt.
Wie man später hörte, hatte er es dann tatsächlich bei einer Frau nachmachen wollen, ohne allerdings groß zu fragen. Eine Art Dorfgespräch zu seiner Zeit. Was tatsächlich daraus geworden, habe ich nie erfahren. Ingwald hieß er. Man sah ihn nie wieder. Auch bekamen die Kinder aus der Familie die meisten Rohrstockschläge in der Dorfschule.
Jedenfalls war ich da einmal hängengeblieben als Knabe bei der zweitärmsten Familie. Die hatten einen Fernseher. Und da lief ein Film über Thomas Müntzer, wahrscheinlich DDR-Fernsehen. Eine vage Erinnerung, daß mich der Film rührte.
Gerd hieß der Sohn, mit dem mich etwas verband: wir saßen nebeneinander in der Dorfschule. Es gibt ein gestelltes Foto davon: beide lächeln, haben ein Heft vor sich und einen zugeschraubten Füllfederhalter in der Hand, die nur so tut als ob sie schriebe, dahinter die Tafel. Es gibt ein weiteres Bild, wo ich als junger Parademarschbegeisterter ihn parademarschierend hinter mir her ziehe beim Schützenfest, zum Amüsement vor allem der Zuschauerinnen.
Ihn, den Gerd, rief man irgendwann aus der Schule heraus, seine Mutter sei gestorben. Sie hatte mit Tabletten Selbstmord begangen.
Beide Familien verschwanden irgendwann. Und der ganze Echoraum, den das jetzt hervorruft, reicht hinab bis zu einem gewissen Bubi und seinem Sprachfehler, d.h. ihm gelangen keine D- und T-Laute (er sei, hieß es, als Kind auf den Kopf gefallen), der ebenfalls zu dieser zweitärmsten Familie gehörte.
Gleichviel, Tiecks ‘15. November’ erzählt von einer Sturmflut. Der Name, der zuerst auftaucht, wird nicht umsonst “van der Winden” sein. Ein solches regnerisches und windiges Wetter verleitete mich auch am Nachmittag hier, wo all dies sehr unwahrscheinlich ist, was Sturmflut betrifft, dazu, den vor zwei Tagen gereinigten Ofen doch mal wieder zu heizen.
Die Erzählung allerdings beginnt mit Tulpen und Hyazinthen.
Aber sie endet in einer Katastrophe: Begebenheiten, Rettungen, seltsame Anblicke, Wracks, Licht und Finsternis, Sturm und Brandung, alles wechselte so schnell, das Boot schoß mit Eile dahin, immer neuen Gegenständen vorüber, neue Gegenstände ihnen vorbei, so daß die so wunderbar Erhaltenen nicht zur Besinnung kommen konnten.
Daß mich der Tabaccaio wieder mal mit ‘Auschwitz’ begrüßt und daß gestern wieder mal auf einen Post von mir, der einem Kommentar zum Debakel der italienischen Fußballnationalmannschaft des Sinnes, daß dies sein Analoges in der politischen Lage der Nation habe (Berlusconi nun auch schon wieder! um Himmels willen!) und so auch in deutschen Zeitungen zum Ausdruck kam, in diesem Sinne recht gab, aber eben doch wieder einen Kommentar einheimste, daß nämlich ihm, dem Kommentator, die Deutschen eh schon immer unsympathisch gewesen, stell’ ich mal so hintan.
Der willkommene Raum der Nichtargumentation, die sich festhält am Nichtdenken und einfach nur botanisiert. Allerdings: Rassismus, der gegen Rassismus nonchalant aufbegehrt. A rose is a rose is rose.
Es klopfte an der Tür, nachdem ich mein Süppchen gelöffelt. Herein stürmte V., der Ukrainer, fing an, von Fußball zu reden, vom Trainer der italienischen Nationalmannschaft, dessen Namen ich heute zum ersten Mal gesehen und gleich wieder vergessen habe. Von Hintergründen, politischen und überhaupt allen Komplotten offenen Argumenten. Ich verstand überhaupt nichts mehr.
Bis er auf sein Hauptanliegen kam, er habe sein Auto in der Werkstatt und müsse morgen seinen Sohn nach Narni bringen, wofür, weiß ich nicht mehr. Wir verabschiedeten uns, er mit meinem Autoschlüssel in der Hand und ich mit einem Wunsch für eine Stuhlreparatur.
Wirre Welt.
es sind zwei nicht unwichtige Zeilen hinzugefügt worden…