[Casa di Schulze, Kaminraum, ore 11.07]
Stahlblauer Himmel über dem kleinen Ort bis zur Kathedrale hinan; scharfe Kälte, in den Kleidern haftet der Geruch verbrannten Holzes, der die Gassen fast insgesamt füllt: auch tags, als stiege er, nach Erlöschen der Feuer zum Schlaf als Sediment auf die Pflastersteine – meist blankgetreten Katzenköpfe – niedergesenkt, von ihnen ins Licht wieder auf.
Ein kleiner Gang den Berg hinab gestern, um fürs Abendmahl einzukaufen zum „Maghrebiner“ – einem orientalisch-märchenhaft mit Obst und Gemüse fast überschütteten Laden, der die grobe Form vierer Garagen hat, deren Zwischenwände entfernt worden sind; mehr nicht; die Kasse vorn bei Oliven und etwas Käse, den – jetzt, im Winter – Nüssen gegenüber, auch sie in Schütten. Märchenhaft gleichfalls die Preise bei n o c h märchenhafterer Qualität. – Ich grüß dort mit „Salam“, was stets ein Lächeln zurückschenkt. (Den Gottesnamen laß ich schweigen).
Der Hin- und also Hinabweg führte hinterm Ort entlang und um ihn fünftels herum bei weitem Blick über die bewaldeten östlichen Hügel bis zum ersten, des Apennins, Fels-tatsächlich–berg, der erstaunlicherweise auch in der Höhe nicht weiß ist; ich kenn ihn winters schneebedeckt: Es ist der Skikoloß der Römer.
An den Abenden sitzen wir zusammen, bis gestern taten wir’s auch des tags, → Parallalie und ich, er über seine Übersetzungs-, besser Nachdichtungsarbeit des → Re Orso gebeugt (einem Auftrag Cristoforo → Arcos), ich entweder über → Nabokovs „Gabe“ oder, zunehmend intensiv, an meinen Béarts, deren No XXVIII ich gestern tatsächlich abschließen konnte; vorher habe ich Ihnen, Geliebte, einen →Auszugsentwurf hier einstellen können. (Ich höre gar nichts von Ihnen? Ist Ihnen dieser Texte wohl entgangen? Und haben Sie → mein Wort zum Neujahr gesehn?)
Wie auch immer, am Schluß wird diese Klage um Kinder, daß sie nämlich fehlen, ein Abschied des Klagenden selbst. Und d a, als ich soweit war, hatte ich eine Idee … – nein, den Instinkt, aus sämtlichen Stücken des Zyklus das Ich hinauswerfen zu müssen, um es durch ein Wir zu ersetzen. Sollte ich ihm folgen, bedeutete es allerdings, nicht wenige Rhythmen und aber auch Reime radikal ändern zu müssen. Dies will ich – auch da aber versuchsweise erst – allerdings nicht angehen, bevor nicht alle dreiunddreißig Gedichte als Entwürfe fertig sind. Also wohl erst, wenn ich zurück in Berlin sein werde. Sowohl Béart als auch Die Gabe halten mich ohnedies schon genug davon ab, → die Serie fortzusetzen, an deren Reihe nun die Besprechung des zweiten Erzählbandes notwendig wäre, dringend. sogar. Schreiben will ich sie auf jeden Fall noch hier.
„Ein Wir ist aber problematisch“, gab nicht zu unrecht der Freund zu bedenken, wobei ich genau das aber will: ein heterosexuell-männliches Wir, das die „private“ Perspektive in einen Abgesang allgemeinen Charakters vergehender Natur hebt und gegen das, ich sage mal, „Queer“ stellt – nicht zwecks dessen Denunziation, überhaupt nicht, doch um einen ontologisch ebenso gerechtfertigten, einen gleichberechtigten Anspruch zu vertreten, besonders des Begehrens. Wobei hier nicht nur als Fußnote von der Brügger Madonna zu sprechen wäre, von der mir Parallalie erzählt und die er mir→ bei Wikipedia zeigte. Anders als für mich, so erwies sich’s in unserm Gespräch, ist seine Verehrung für diese Arbeit Michelangelos nicht erotisch, sagen wir: nicht sexuell, sondern tatsächlich sozusagen heilig, was „unantastbar“ meint, im Wortsinn, derweil ich selbst unmittelbar ein jenem durchaus ähnliches Verlangen empfand, das mich geradezu durchflutete, als ich in den Achtzigern vor Antonellos Anunziata stand, und später immer wieder: Ich möchte die Haut dieser Frau riechen und schmecken, ihre Stimme hören in meinem zumindest inneren, meinem metaphorischen Ohr, am liebsten aber in beiden physischen Ohren konkret. Und mit einer Liebkosung des Flüsterns antworten dürfen.
Woher mein sinnliches Angerührtsein rührt, weiß ich gut: Es ist „heidnischer“ … nein, eben nicht Nachklang, sondern ein bestehender, weiter wirkender Klang-v o r a u s — animistische, gleichsam, Zukunft (durch die mir freilich das Alter einen Strich macht, der Realisierung ohnedies ausschließen würde) — aber jetzt, im Moment, da ich dies schreibe, wird mir voll evidenter Kraft bewußt, daß eines der Béartgedichte solchen Madonnen gewidmet sein muß, sich ins „Christliche“ subversiv eben nicht nur geretteten, um verborgen am Leben zu bleiben, Demeterfiguren, sondern sie wirken subversiv, unterlaufen die Körper- (und deshalb Natur-) -feindlichkeit des Monotheismus. In ihnen kann das Wort menstruieren. Genau das läßt sie meiner Poetik so nah sein.
Doch ich will „mein Pulver“ hier nicht „verschießen“, nur kurz was skizzieren – wem sonst, Ersehnte, als Ihnen, die ohnedies durch alle meine Texte scheint. — Sabine Scho, die derzeit in der → Villa Massimo lebt und die wir nächste Woche treffen werden, hat – explizit für die Béarts – mir überdies den Hinweis auf eine römische Kirche gegeben, → St. Isidoro, die wir zusammen besuchen werden, hoff ich jedenfalls. Danach, spüre ich, wird die Zeit sein, mit diesem Gedicht zu beginnen. Aber vielleicht „werf“ ich schon vorher „was hin“.
***
Selbst der Silvesterabend, die Silvesternacht, war béart- freilich auch boitogefüllt: Der Freund las Szenen vor, und zwar derart plastisch, daß ich versucht war, ein Filmchen für Die Dschungel mitzuschneiden. Weshalb ich es sein ließ, kann ich kaum sagen; deshalb vielleicht, weil Musik dazu lief, die sich auf einer Aufnahme vorgedrängt hätte. Doch reizvoll wäre, besonders reizvoll, nur seine die Rezitation begleitende rechte Hand zu zeigen, zu der die Stimme dann singt. Und anstelle, wie wir uns vorgenommen, zum Jahreswechsel auf zwei oder drei Grappe → zu Valda hinunterzuspazieren, blieben wir der Dichtung halber insgesamt hier und hörten noch → mein Hörstück zu Daniela Danz, deren Sprache ich dem Freund unbedingt nahebringen wollte. Ich hatte es schon mehrfach versucht. Diesmal gelang es: Sie hat nun den ihr gebührenden Rang auf Schulzes Lektüreliste eingenommen.
Da war es schon lange nach eins.
Zu Bett gingen wir gegen halb drei. Vereinzelt waren Böller – kaum – zu hören, doch nebenan, in der Jugendherberge, dröhnte einer Party baumhohlhartes BUMMBUMM | BUMMBUMMBUMM | BUMMBUMMBUMMBUMM bis ungefähr eine halbe Stunde später. Nehme ich an, denn ich schlief drüber ein.
Bedauerlicherweise ist die Damigiana voll Mauros Privatwein bereits ausgetrunken; Nachschub ist nicht vor Montag zu erwarten; so geht’s erst mal mit → Zanchi weiter. Dafür hat der Freund ein wunderbares Öl entdeckt, ebenfalls aus kleiner, für den Export nicht vorgesehner Produktion. Ich habe Phyllis Kiehl, deren herrliches Weblog leider nur noch sporadisch geführt wird (wobei ich besser von „fouwlichem“ schriebe), versprochen, ihr zwei Flaschen des Zanchi-Öles mitzubringen, das sie liebt; nun spiele ich mit dem Gedanken, davon nur eine zu besorgen und die zweite eben von Fabiano. Allerdings, ich hatte schon auf dem Herflug a bisserl Übergepäck (was liebevoll übersehen wurde).
Rom also erst nächste Woche; ein Béartgedicht würde ich gern unter → Himmel und Kuppel von Pozzo skizzieren.
Schönste, ich denke an Sie:
ANH
(der sich den Anflug einer grippalen Infektion eingefangen hat; im Hals hinten kratzt es, und ich bölke vor mich hin. Interessant indes, wie auch dagegen Nabokov Abhilfe schafft. Und, à propos: – nicht vergessen, über seinen ziemlich deutlichen, bisweilen sogar kruden Konservatismus zu schreiben und daß er keinerlei Scheu kennt, heute verbotene Wörter zu verwenden. Von seinen Nymphetten sprech ich besser gar nicht erst. Die Correctness hätte fürwahr eine g e i l e Freude an ihm. Sie käm aus ihrem Reiben gar nicht mehr raus. — Ah ihr Mindergeister, schaut: Das nächste Genie gibt’s zu zensieren! Bis nichts mehr bleibt, das nicht Mittelmaß ist – wenn es denn „gut“geht.)