(…) diejenigen aber, die nicht darauf verzichten konnten, den Eros in kosmischer Perspektive zu sehen, wandten sich von der asketisch getönten Christlichkeit ab und hielten dem Eros die Treue, ein schwerer Kraftverlust für das Christentum. Denn es sind nicht etwa die ausschweifenden und gemeinen Naturen; die sind sowohl für die Religion wie für die Erotik verloren. Es sind die Tiefgründigen, die an der Frage leiden: Darf eine Religion bejaht werden, die mit dem Eros bricht?
Die zweite ungewollte Folge christlicher Erosfeindschaft ist der Ausfall der erotischen Kräfte in der Kulturgestaltung. Von der Religion verworfen, hatte der Eros keine Möglichkeit, an den höheren Lebenstätigkeiten mitzuwirken. Deshalb verfiel der moderne Mensch so rasch und leicht den geistigen Irrtümern, unter denen er heute stöhnt, dem Rationalismus, dem Individualismus und der Versachlichung des Daseins (Materialismus im weitesten Sinn). Gegen diese Übel hätte gerade die erotische Haltung und Schulung einen gewissen Schutz geboten. Die volle Lebendigkeit der Liebeskräfte hätte die schwere Krise des Gefühls gemindert, die dem Glauben an die Allmacht der Vernunft teils voranging, teils folgte. Auch hätte der erotische Entselbungsdrang den verknöcherten Individualismus, der den Menschen in die Enge seiner zeitlichen Person einschließt, nicht aufkommen lassen oder doch in Schranken gehalten, so daß die Krise des Ganzheitsempfindens mit ihrer zersplitternden Wirkung weniger schwer geworden wäre. Die enthusiastische Natur des Eros (Hervorhebung von mir, ANH) hätte das bürgerliche Ordnungsideal einzudämmen und hin und wieder die starre Mechanik zu durchbrechen vermögen, die aus der übertriebenen Planung des menschlichen Daseins folgt. Denn der Eros ist, wie der Todfeind des Individualismus, so auch der grimmigste Widersacher der Bürgerlichkeit, des gliedernden Rechtsdenkens und der Versachlichung des Lebens, weil in einer bürgerlich durchgeformten Welt die Geschlechterliebe mit ihren Ausbrüchen, Aufschwüngen und Verzückungen keinen Platz mehr findet (Hervorh. von mir, ANH). Sie hat zuviel vom Wunder, vom Geheimnis und Mysterium an sich. Es ist die dämonische Seite der Liebe, ihre Besessenheit und ihre Wahnsinnsnatur, die dem ruhegewohnten (Anm. ANH: dem geschäftetreibenden, kalkulieren wollenden) Bürger mißfällt. Denn es ist die Geschlechtsfurcht, die auch in der Bürgerkultur ihr Wesen treibt. Sie gab H. Spencer die verstiegene Idee ein, daß die Liebe immer überflüssiger werde; das Endziel der Menschenentwicklung sei die absolut liebeleere (ANH: d.h. geschlechtsindifferente) Welt, die bei voller Solidarität der Interessen sich selbst im „sozialen Gleichgewicht“ (ANH: dem Geschlecht als sozialer „Konstruktion“) behaupte. Hier reckt unverkennbar die Angst vor jeder Art Liebe das Haupt aus dem Dunkel. Die Bürgerkultur kämpft gegen erotischen Überschwang aus dem gleichen Grunde wie gegen den Begriff der ira Dei: Sie liebt das Unberechenbare nicht (Hervorh. von mir, ANH). Einen ernsten Kampf mit ihr konnte der entrechtete Eros nicht wagen. So zog er sich zurück und überließ ihr das Feld. Mit ihm wich das dionysisch-schöpferische Element aus der abendländischen Kultur und schließlich – das religiöse. Die Schwächung des Eros rächte sich zuletzt an der Religion, die die Schwächung verschuldet hatte, und damit wird der Religion wider ihren Willen in drastischer Weise bewiesen, wie nah sie mit der Erotik verwandt ist.
Auch die asketische Frauenverachtung reicht mit ihren Ausläufern bis in die jüngste Zeit herein. Sie schuf die Voraussetzung für die moderne Frauenemanzipation. Diese bedeutete eine Unterwerfung der Frau unter die männliche Weltbewertung. Die Emanzipierte versucht nicht, die eigentümlich-weibliche Art gegen die männliche durchzusetzen (Demut gegen Hochmut, Schöpfertum gegen Kritik, Ganzheitsdrang gegen Teilungsmanie, organisches Empfinden gegen Mechanik). Sie geht vom (angeblichen) Vorrang der männlichen Werte aus und möchte der Frau lediglich den vollen Mitgenuß dieser Werte und die Teilnahme an ihrer Ausgestaltung sichern. Das ist keim Kampf um Ebenbürtigkeit der Geschlechter, um die Gleichwertigkeit der männlichen und weiblichen Typik (ANH: die im Gegenteil unterdessen geleugnet werden), sondern ein Kampf um die äußere Gleichberechtigung der Frau in einer männlichen (ANH: und damit eben männlich bleibenden) Welt.
Das Störungsmotiv ist auch der Schöpfer der bolschwistischen Geschlechtsmoral. (…) Das Endziel ist, die geschlechtliche Energie in soziale Energie umzusetzen. Aufschlußreich für diese Vorstellung ist die Abhandlung von A. B. Salkind „Die Geschlechtsfrage und die Sowjetöffentlichkeit“ (Leningrad 1926, russisch), Sie legt die 12 Hauptpunkte der bolschewistischen Sexualmoral dar. Unter 10 heißt es: „Eifersucht ist unzulässig.“ Unter 12: „Das Geschlechtsleben darf die Klasse nicht stören. Es hat ihr in jeder Hinsicht zu dienen.“ Ersetzt man das Wort Klasse durch Gott, so hat man in Reinzucht das religiöse Störungsmotiv.
Walter Schubart, → Religion und Eros (1941), München 2001
Interessant auch, wie Schubart die christliche Negierung des Eros aus dem Hellenismus wie dem imperial nachgefolgten patriarchalen Rom herleitet, dort noch als gegen die zweigeschlechtliche Vereinigung (als „schmutzig“, „unwürdig“, gegen die Klarheit des „Geistes“) gerichtete Idealisierung der männlichen Homosexualität mitsamt ihrer „reinen“ Knabenliebe. „Die kirchliche Zurückdrängung des Weibes, die schon im frühen Mittelalter den Niedergang karitativer Liebestätigkeit nach sich zog, bedeutet einen Sieg antiken Denkens über christliches Denken“, Schubart S. 246. Überhaupt Paulus erst, dann besonders Augustinus – der den zweigeschlechtlichen Akt als notwendiges Übel bestimmt, das nur mit einer auf Nachkommen gerichteten „inneren Absicht“ vollzogen werde dürfe – flößen die Verdammung der sexuellen Vereinigung von Mann und Frau ins Christentum ein. Damit wird der zweigeschlechtliche Orgasmus seiner Transzendenz beraubt, die intergeschlechtliche Sexualität – insgesamt – zum darin bereits warenökonomischen Zweckakt und der Mensch-selbst eine Ware: Reproduktionsökonomie. In der Gendercorrectness der heutigen Gegenwart setzt sich genau dieses fort, ja mehr noch: wird hier nun— perfekt.
Genau dagegen ist mit ganzem Nachdruck Schubarts Variation auf Faust II beizustimmen:
Wer den Geschlechtsinstinkt nicht hinaufzieht, den zieht er hinab.
Schubart, S. 251
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