ANH an Liligeia, dritter Brief. Donnerstag, den 7. Mai 2020. (Krebstag 8).

[Arbeitswohnung, 3.10 Uhr
Allegri, Miserere]

Tatsächlich seit einer Stunde wach, nein etwas länger schon, mich hin- und hergeworfen, dann, wie bereits gestern, aus dem Bett, diesmal aber für Latte macchiato. Alles dieses aufregungshalber, gewiß, da wir doch nachher die Befunde, Li, entgegennehmen werden — mehr aber noch, weil mich der Entzug diesmal derart beißt. Die vierte Tag hebt an, daß ich nicht rauche. Es fällt mir irrsinnig schwer. Doch dann fand ich in der Post den dritten Brief einer erbittert von mir Abgelösten, die, seit sie von Dir weiß, sich zurückgewandt hat und nicht nur mitfühlt – das wär banal –, sondern gegenwärtigst mitdenkt auch und sich darüber wunderte, welche Wahl ich für meine Hinübergangsmusik wählen wollte: „O du Land …“, Schoecks sehr, sehr kurzes Requiem in der Gestalt eines einzigen Liedes aus dem → NACHHALL-Zyklus op. 70. Sie, die Freundin, hätte auf Allegri getippt, Gregorios großes Miserere; meine Vorliebe sei interessant, eines solchen „Archetypus des mediterranen Raums, wie Sie es sind“. Ausgerechnet einen Schweizer zu nehmen, hör ich sie spöttisch rufen, Sie, vom Blute Mezzogiornos! —
Nun „läuft“ Allegri hier, leise selbstverständlich, um nicht die Nachbarn aufzuwecken.

Doch, Lilly, sage mir, ob nun auch Du derart viele Brief erhältst und Nachrichten, die Dir Hilfe anbieten, vor allem in Hinsicht auf Lektüren. Auch meine Freunde wolln mir dauernd irgendwelche Bücher geben … nein, nicht irgendwelche, sondern immer dreht sich’s um Krebs. Da würde ich, ginge ich all deren Empfehlungen nach, gar nichts anders mehr tun, als über meine und Krebserkrankung als solche zu lesen. Das will ich aber nicht. Ich will über Musik lesen (und sie hören selbstverständlich), möchte über ferne kosmische Räume lesen und lesen von begeistert-obsessiven Lieben, darin sich die Menschen leiblich umfangen. Dürfen sie auch gern die Moral vergessen, jede Moral, ob gegenüber den Partnern, sich selbst, der Gesundheit. Unser Leben kann plötzlich zuende sein; kein Versäumnis läßt sich dann noch beheben. Von der Fruchtbarkeit möchte ich lesen und von Geburten – neuer, aber auch alter Menschen, die als junge zuück- und auch sonstig verwandelt kommen. Sowie mehr von dem soeben → neu entdeckten schwarzen Loch möchte ich wissen, dessen beide begleitenden Sterne mit bloßen Augen sichtbar seien. Gerade auch Dich, Ligeia, dürfte solch eine Ansicht locken, locken und locken. Wir wären einander sonst weniger nah. Meine Güte, was interessiert da uns der Krebs? Zumal wir doch nur glauben können.
Was haben wir, schönste Li, denn jetzt schon alles gehört! Ich von Dir und Du gewiß von mir, aus andrem Mund — darunter aus, jaja, berechtigten Mündern, deren Zungen Zugang zu den Gehirnen anderer Erfahrungen haben und gelebt haben, was uns nun noch bevorsteht. Die möchten mir, ich versteh‘ es, wirklich doch nur raten. Nur sagt jeder etwas anderes. Das gilt sogar für die Fachpresse und die Ärztinnen und Ärzte persönlich. Die einen widersprechen den anderen und stimmen wieder andren zu, die aber denen widersprechen. Es ist einfach nichts gesichert, oder nur sehr wenig. Worauf verlassen wir uns also? Die Heiler gelten Ärzten als Scharlatane, im besten Fall als Hochstapler, im schlechten als bloß Irre, doch denen gelten die als dienende Teile einer riesigen, unfaßbaren Geldmaximierungsmaschinerie, die in rein ökonomische Gewinninteressen gebeugt ist: in der gesundheitsmilitärischen Befehlskette dienende gemeine Soldaten vorne an der Front, die nicht mal um den Kriegsgrund wissen. Und ich — und wir, Ligeia — können gar nichts überprüfen. Wie können nur vertrauen, begeben uns am besten in nur eine Hand, also zwei, vielleicht noch zwei dazu … auf keinen Fall aber mehr! Sonst wären wir verloren.
Ich glaube, was mir ernährungshalber लक्ष्मी sagt und folge ihr. Die Einwände von anderer Seite sind mir egal und müssen es sein. So werde ich es, Li, auch mit den übrigen Fragen halten. Halten müssen.

Und dann aber all die Menschen, die mich fragen, wie’s mir geht. Ich sag dann immer – nur selten antworte ich gar nicht (dann meistens aus Erschöpfung): „Steht alles in Der Dschungel, lest da bitte nach.“ Auf welche Auskunft hin manche Menschen schwer beleidigt sind. Sie möchten etwas, denk ich mir, ‚Persönliches‘ hören, weil sie nicht begreifen, daß das Persönlichste, das ich vermitteln kann, alleine meine Kunst ist. Außerdem ist ihr Verhältnis zur Logik gestört, zumindest das zu Zahlen. Jedenfalls rechnen sie nicht. So tu nun ich’s mal hier:

Was ich täglich in DER DSCHUNGEL schreibe, dauerte gesprochen (bzw. vorgelesen) vielleicht fünfzehn, mag sein zwanzig Minuten. Nehmen wir das Mittel, 17’45“. Fragen mich jetzt zwanzig Leute nach dem Stand der Dinge, und ich antworte, ergibt das bereits 355 Minuten unentwegten Sprechens, also 5,92 Stunden – täglich, wohlgemerkt.

Hinzu addiert sich noch die Zeit für ganz andere, sagen wir „interaktiv soziale“ Gesprächsminuten, die mit Dir, meiner Li, gar nichts zu tun haben. — Des‘ wärn auch Sie, o Leserin, ganz sicher sehr bald müde. Und ja, ich bin an Krebs erkrankt, nun gut … oder schlecht …  – an Dir, Du große Geistin, krank. Doch das heißt nicht, daß es fortan für mich allein nur Dich gibt. Anders würd es, gib’s nur zu, auch Dich dann sehr schnell kühlen. Statt dessen aber dann warn wir gestern mittag beieinander höchst zufrieden — täusche ich mich, Lilly, da? (Und was mir लक्ष्मी erstaunlich in den Sinn bracht‘: weshalb war ich drauf von selbst nicht gekommen? daß wir uns auch auf Deiner Insel längst getroffen haben, wo ich den tiefsten Sport erlernt, der durch die Seele fließen kann und sie umfließen läßt von seiner Welt, dem Meer. Warst Du Sirene da schon bei mir, als ich zu tauchen lernte? L‘Isola del Giglio, Deine Lilieninsel, Li. — Du sagst nichts? Lächelst nur? –) … He, hörst Du nicht!? Doch, doch, Dir ist’s schon klar, daß wir im Lauf der Vormittags Klarheit bekommen werden als bittren, allzu bittren Wein vielleicht. Ist Dir das klar?

Aber auch manchen sehr Vertrauten habe ich bislang nicht geantwortet, selbst Förderern, selbst Freunden. Wilhelm Kühlmann (ohne den ich, was ich heute bin, nicht als Dichter wäre) schrieb mir einen guten, intensiven Brief und sprach sogar auf die Stimmbox; der kluge Eickmeyer fragte nach, auch er blieb ohne Antwort. Manchmal weiß ich selbst nicht, auf wen ich reagiere und weshalb auf andre nicht. Es hängt nicht selten an der Situation, in der ich gerade „erwischt“ werde, ob ich gerade schreibe oder, Liligeia, mit Dir im Gespräch bin oder ob ich Musik höre (Mahler wieder, derzeit, viel, besonders gerne unter Barbirolli). Am besten ist, man ruft mich an, ich hebe ab. Oder bin ohnedies grad an den Mails. Was ich hingegen verschiebe, verschiebe ich dann nochmals. Nehmen Sie es mir nicht übel, wirklich, bitte. Schauen Sie in DIE DSCHUNGEL, da steht alles, was wichtig ist, drin und mehr darüber hinaus, das ich anders gar nicht vermitteln könnte— sogar, wie ich mit Lilly spreche, Dir, den Blumen, meinen, auf dem Feld. Sie hat sie mir gebunden. Du hast sie mir gebunden, sie sind so furchtbar weiß.
Und was Sie auch noch wissen sollten – Liligeia bekommt es gerade ziemlich deftig mit: Ich bin auf Nikotinentzug, hab’s oben schon gesagt, wie diesmal sehr viel heftiger denn je er ist. Schon vorgestern  → wacht‘ ich von ihm auf, und gestern legte ich mich tags drei Mal nacheinander in Abständen hin, fand aber nie in Schlaf, stand nach zwanzig, dreißig Minuten jeweils wieder auf, getrieben, nur um es eine Stunde später, erneut erschöpft, aufs nächste zu versuchen. Und neuerlich erfolglos. Ich habe das Gefühl, daß mich dieser Entzug momentan mehr Kraft als Du in Deinem Kokon kostet, Li, darf ich so sagen für die Puppe Deines Tumors? — aus dem wir vielleicht, wenn die Verwandlungszeit vorüber, unsrer beider Flügelpaare weit entfalten, nachdem sie an der freien Luft getrocknet …

und dann sehen die Augen, in einer Flut von Sonnenlicht sieht die Schmetterlingin

zu der wir beide wurden

die Welt
Nabokov,
Metamorphosen (dtsch. v. Dieter E. Zimmer)

und heben, Ich-Animus in Anima-Du, in eine bereits nächste, oh Lillyliebste, ab.

Gut allerdings – erinnerst Dich, wie beruhigt auch Du warst? –  die Ergebnisse bei meiner Kardio- und Angiologin. Gefäße sämtlichst in Ordnung, auch da unten am Bein. Und trotz der Stiche, die Du mir (obwohl ich Dich nun wirklich nicht mißachte) immer wieder heftig sendest, auch das Herz ganz prima in Funktion. Blutdruck 110:70, „bekomme ich selten zu sehen“, sagte die Ärztin, und trotz meiner langen Laufpause der Ruhepuls immer noch zwischen 50 oder 55. „So heftig Ihre Diagnose ist – Sie sind in jedem Fall gewappnet. Gegen welche Therapie auch immer gibt es bei Ihnen aus meiner Sicht nicht eine einzige Kontraindikation.“
So gehn wir denn gewappnet, Du und ich. Verzeih, wenn ich mich wiederhole: doch mein Tod wär auch Deiner. Drum laß uns eine neue Art erfinden, in der Du Dich weiter in mir repräsentierst, ohne daß wir uns – auch ich nicht Dich – in unsrer Existenz gefährden. Besser wär’s doch, beide Wirs brächten mein Werk zu einem guten poetischen Ende. In das wir beide jubelnd liefen.

A.
[Schoeck, Nachhall op. 70]

P.S.:
Allerdings habe ich deutlich abgenommen, 71,3 kg jetzt, ergo, wenn Hemd, TShirt, Hose abgerechnet, unter 71. Freilich kein Wunder, so wenig, wie ich derzeit esse … essen kann, trotz meines nach wie vor ziemlich vitalen Appetits.

5 thoughts on “ANH an Liligeia, dritter Brief. Donnerstag, den 7. Mai 2020. (Krebstag 8).

  1. Mich wundert, warum Sie ausgerechnet jetzt dem Nikotin entsagen wollen. Wenn die Gefäße i.O. sind und keine PAVK dräut oder schon angeklopft hat, zumal mit der jetzigen Diagnose und vielleicht heute klareren Prognose. (?

    Früher oder später wird man Ihnen Astronautenkost anraten. Krebs verzehrt unheimlich viel Energie. Wir mußten jene täglich unseren Patienten aufdrängen, denen sie schließlich buchstäblich zum Hals heraus hang.

    1. Lieber Markus Kolbeck,
      da ich keinen Zweifel daran habe, daß meine über vierzigjährige und wie alles, was ich tue, intensive Raucher“karriere“ vielleicht nicht ausschließlich schuld an der Entstehung dieses Tumors hat, aber doch einen gewichtige Anteil trägt, hielte ich es für bizarr, wollte ich ihn nun noch weiterfüttern. In den letzten Tagen rauchte ich sogar entschieden böse gegen mein Gespür an, daß es mir nicht guttat. Und jetzt, da sich der Entzug nach vier Tagen erstmals weicher zeigt (es wird auch nochmal anders werden, lo so), werde ich sogar etwas belohnt. Heute vormittag, auf der >>>> Rückfahrt vom Krankenhaus, konnte ich – auf dem Fahrrad! – mein geliebtes Parfum riechen, das ich noch in der Klinik aufgesprüht hatte. Es war beinah nicht zu fassen, nein, ist nicht zu fassen. Und die Geruchswahrnehmung sensibiliert sich auffallend insgesamt. Zum Dritten ist mein Wille nunmehr wieder gefragt, mehr denn je. Die Rauchentwöhnung trainiert ihn auf eine weitaus, wie ich ahne, schwierigere Aufgabe.

  2. „Manchmal weiß ich selbst nicht, auf wen ich reagiere und weshalb auf andre nicht. Es hängt nicht selten an der Situation, in der ich gerade „erwischt“ werde, ob ich gerade schreibe oder, Liligeia, mit Dir im Gespräch bin oder ob ich Musik höre (Mahler wieder, derzeit, viel, besonders gerne unter Barbirolli). Am besten ist, man ruft mich an, ich hebe ab.“ i feel you. lass dich nicht auf die krankheit verkleinern, das bist du nicht. denke an dich.

  3. Irre ich mich? Oder führen Sie da einen Dialog mit Ihrem Krebs?

    Falls das zutrifft, so haben Sie sich eine gnadenlose Gesprächspartnerin gewählt. Wir haben während des Studiums immer gesagt: „Das Karzinom ist die Königin der Krankheiten.“

    Königinnen sind meist einsam und lechtzen deshalb nach Unterhaltung. Aber sie lassen deshalb auch keinen aus ihren Diensten, der einmal darin ist.

    1. Lieber Gogolin,
      ja, >>>> dort habe ich ihn begonnen, diesen Dialog, jedenfalls die Idee umrissen und ihren Grund erklärt. Dabei ist mir das Risiko selbstverständlich bewußt. Ich mag aber auch nicht verschweigen, daß gerade dieses es ist, was mich hier mitreizt (zu >>>> Benjamin Steins höchst zu bedenkendem „Fleisch von Deinem Fleisch“). Und es waren stets gefährliche, oft auch harte Frauen, die mich begeistert, mir die Sinne verwirrt und genommen haben. Genau deshalb nun ja >>>>Ligeia, mit der ich ohnedies seit über vier Jahrzehnten heimlich ständig spreche und deren, sagen wir, „Schwestern“ durch viele meiner Bücher wehen.
      Daß sie allerdings eine Königin sei und welche Folgen dies habe, ist eine Bemerkung, für die ich Ihnen gar nicht dankbar genug sein kann. Denn in ihr ist der (im mathematischen Sinn) Ansatz ihrer eigenen Sprache verborgen, bzw. nun offenbar, den ich dringend brauchte, wenn ich nicht nur sie von mir aus ansprechen, sondern sie auch antworten lassen möchte – was einsehbarerweise eines von meinem verschiedenen Sprachgebarens bedarf. Sie werden es morgen lesen.
      Ihr ANH

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