Lieber ANH,
(…) einen gleichermaßen → aufmerksamen Blick in Putins wie in Habecks Gesicht hätte ich mir von Ihnen gewünscht, statt dessen: Gergiev (na ja) und Netrebko (sowieso überschätzt) – das von Ihnen? Sie haben Lindner gewählt und machen es auch noch öffentlich? → Putin erschießen? Haben Sie je einen von den Bushs, Clinton oder Obama erschießen lassen wollen, und, wenn ja, warum steht davon nichts in den Dschungeln?
Was jetzt → an Russophobie hochkommt, in der FAZ schreibt Kohler von Putin als Sauron und den Russen als Orks, erschreckt Sie das nicht? Was jetzt auf einmal möglich ist, den Rüstungsetat von 1 auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen – das klingt so niedlich, aber das sind fast 20 Prozent des gesamten Bundeshaushalts! – und 100 Milliarden zusätzlich, mit einem Achselzucken? Dazu LNG-Terminals für Frackinns-Gas…
Anyway, man nimmt sich selber politisch zu wichtig. Was ich noch anmerken möchte, ist der Hinweis auf → Ihre Bemerkung, dass „das Reichstagsgebäude“ technisch zu irgendetwas nicht in der Lage gewesen ist… Warum diese Bezeichnung und nicht schlicht „der Bundestag“? Was bricht sich da Bahn? (…) wie sagte schon Hans Wollschläger über Helmut Thielicke: „Ein Professor muß nach seinen Worten beurteilt werden – das sind seine Taten“ (oder so ziemlich ähnlich).
Zuviel Rotwein, aber ich schicke diese E-Mail trotzdem.
Ihr Schelmenzunft
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Lieber Schelmenzunft,
der Wein macht Sie mir besonders sympathisch; auch ich fange abends zu trinken an, manchmal morgens noch Restalkohol. Und verzeihen Sie, daß ich jetzt erst antworte (auch für die eingegangene Büchersendung habe ich mich noch zu bedanken), aber vorgestern und gestern war ich wegen der Ukraine und Putin in heftige Auseinandersetzungen eingebunden und darin, es dann auch >>>> in Die Dschungel hinüberzukopieren, damit es nicht versinkt, sondern jederzeit zugreifbar ist.. Es braucht dies alles sehr viel Kraft, auch, weil sich mir wichtige Menschen (…) jetzt von mir „entfreundet“ haben. Ich täte so etwas nie, weil ich der Überzeugung bin, daß erwachsen zu sein in allererster Linie bedeutet, Ambivalenzen auszuhalten und mit ihnen zu leben. Auch und besonders unter Freunden.
Egal.
Ich möchte mich jetzt zu Ihren, im weitesten Sinn, Vorhaltungen äußern. Allgemein erst mal: Daß ich gegenüber der NATO, vor allem aber den USA äußerst kritisch bin, zieht sich durch Die Dschungel seit Beginn; daß da immer wieder Menschen- und auch Kriegsrechtsbrüche zu verzeichnen waren, ebenso – um von Guantánamo zu schweigen. Also in der Hinsicht können Sie mir kaum Vorwürfe machen.
Doch im einzelnen:
1. Einen gleichermaßen aufmerksamen Blick in Putins wie in Habecks Gesicht hätte ich mir von Ihnen gewünscht. | Den → habe ich getan.#2. Sie haben Lindner gewählt und machen das auch noch öffentlich? | Ja, weshalb nicht? Ich stehe zu meinen Entscheidungen. Die Grünen waren, obwohl ich jahrelang für sie votierte, nicht mehr wählbar, seit sie meine Sprache zerstören. Spätestens mit der, ich sag mal, Genderisierung mußte ich da raus, auch mit der Leugnung des Geschlechts und der Meinungshoheitsübernahme eines klitzekleinen Bevölkerungsanteils über den gesamten anderen. Es ist dies versucht diktatorisch und wird gegen den Willen der meisten legislativ durchgesetzt, also aufoktroyiert. Kurz: Nicht wählbar. Ebensowenig die SPD, dies schon spätestens seit Schröder. Aber, wie der Grünen auch, ist der SPD Kulturverständnis für das meine verheerend, das avantgardistische und jedenfalls komplexe Formen will, nicht Pop. Als Schriftsteller wäre ich, wählte ich denn rein nach Eigeninteresse (was eigentlich Sinn demokratischer Wahlen ist), besser bei der CDU aufgehoben. Da krieg ich, vor allem mit Merz, meinen Stift aber nicht hin, auch nicht wegen ihrer außenpolitischen Positionen. Bleibt nur die FDP. (Einige Zeit lang habe ich die Piraten gewählt, aber das war ein stets verschossenes Stimmen.) Eine tatsächliche Alternative wäre → DiEM25, wenn dieses Bündnis Partei denn schon wäre. – Wegen Grün und FDP haben mein Sohn und ich eine heftige Diskussion geführt, der grün gewählt hat. Es war eine g u t e Diskussion. Er hat verstanden, daß es mir darum ging und geht, mich nicht in meinen eigenen Entscheidungen eingrenzen lassen zu wollen – was die Grünen permanent versuchen, also nicht nur, lacht, bei mir, sondern allgemein. Auf jede Form administrativer Menschenführung reagiere ich mit Widerstand, egal, ob von rechts, links oder aus der Mitte. Denken Sie bitte dran, daß ich von Landauer und Mühsam herkomme. Außerdem hat, aus meiner Sicht, die FDP das entschieden größere Reifebildungspotential.
3. Putin erschießen? Haben Sie je einen von den Bushs, Clinton oder Obama erschießen lassen wollen, und, wenn ja, warum steht davon nichts in den Dschungeln? | Das ist, um’s → mit Wagner zu sagen, ein andres. Bei denen, so entsetzlich sie mir teils auch sind, handelt es sich um gewählte Repräsentanten, deren Entscheidungen immer von Kongressen usw. abhängig sind. Es sind k e i n e Autokraten, geschweige Diktatoren, die allein persönlich über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden können. Hier besteht ein ontologischer Unterschied. Putin ist persönlich eine verheerende Weltgefahr. Weder Obama noch gar die beiden furchtbaren Bushs waren das je, geschweige daß bei denen von der Drohung mit dem Einsatz atomarer Waffen die Rede gewesen wäre, wahrscheinlich nicht mal der Gedanke. Jedenfalls ist mir anderes nicht bekannt. Indessen Putin droht damit.
4. Was jetzt an Russophobie hochkommt, in der FAZ schreibt Kohler von Putin als Sauron und den Russen als Orks, erschreckt Sie das nicht? | Na, weshalb habe ich wohl derart für → diese PEN-Presseerklärung gekämpft? (…)
5. Was jetzt auf einmal möglich ist, den Rüstungsetat von 1 auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen – das klingt so niedlich, aber das sind fast 20 Prozent des gesamten Bundeshaushalts! – und 100 Milliarden zusätzlich, mit einem Achselzucken? Dazu LNG-Terminals für Frackinns-Gas… | Völlig klar, mir schaudert’s da auch. Aber ich teile in der Hinsicht Macrons Perspektive: Es könnte – angesichts des zunehmenden Engagements der USA im Südostpazifik – ein Schritt hin auf ein stehendes Europäisches Heer sein und vielleicht eine Art NATO ohne die USA als „Führungs“macht, was mir eh seit langem stinkt. Ich will ein wirklich Vereintes Europa, zu dem aber auch die Verteidigung gehört. Die Welt ist, wie wir nun wieder wissen, kein friedlicher Ort. (Wir haben es – angesichts all der dauernden Kriege um uns herum, auch des fundamentalistischen Jihad-Islams – auch vorher gewußt, nur immer verdrängt. Was allerdings auch seine guten Seiten hatte, bloß daß Freud recht hat: Das Verdrängte kehrt immer wieder zurück und meist an Stellen, wo wir es gar nicht erwarten.)
6. Was ich noch anmerken möchte, ist der Hinweis → auf Ihre Bemerkung, dass „das Reichstagsgebäude“ technisch zu irgendetwas nicht in der Lage gewesen ist… Warum diese Bezeichnung und nicht schlicht „der Bundestag“? Was bricht sich da Bahn? | Ganz einfach, weil der Bundestag eine politische Institution ist, sozusagen eine – demokratietragende – Fiktion. Das Reichstagsgebäude hingegen ist ein Objekt, keine Idee. Und technische Ausstattungen sind ebenfalls nicht Ideen, sondern Objekte.
Ihr ANH
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Lieber ANH,
(…) „Reichstagsgebäude“ ohne „ehemaliges“ ist für mich ein sprachlicher Missgriff, genauso wie das verniedlichende „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (‚Seien Sie doch mal ein bisschen menschlich‘) statt des korrekten „Verbrechen gegen die Menschheit“.
Ihr Schelmenzunft
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Lieber Schelmenzunft,
ad 1) „Verbrechen gegen die Menschheit“ klingt mir zu groß-abstrakt, indes „gegen die Menschlichkeit“ in unser je eigenes Inneres geht, um auch nicht zu vergessen, daß Putin und Konsorten zur Menschheit sehr wohl dazugehören, allerdings nicht zur Menschlichkeit. Von dieser – also sie in emphantischen Sinn – sind sie ausgenommen. Daher meine Formulierung.
Ad 2) „Reichstagsgebäude“ ist → der exakte historische Begriff und bezieht sich nicht etwa auf die Hitlerjahre., sondern sowohl auf die Zeit des Kaiserreiches als auch die der Weimarer Republik. Dieses zu ignorieren, wäre – aus welchem historisch-moralischem Grund auch immer – Geschichtsklitterei. Aber auch im, ich sage mal, Volksmund wird kurz vom „Reichstag“ gesprochen, ohne daß dies eine Sympathiebekundung für rechtsnationale Bewegungen wäre. Von mir ist dergleichen nun auch wirklich nicht zu erwarten.
Doch dies beiseite. Ich muß dringend einen Text nicht nur zur zu erwartenden, sondern bereits, siehe → Kestings Artikel[1]Schelmenzunft selbst schickte → ihn mir. (der sonst so kluge Mann wird immer dümmer) in vollen Gange, aber noch Anlauf nehmenden Gesinnungsprüferei russischer Künstler schreiben. Solange sie sich nicht expressis verbis hinter Putins Vernichtungsfeldzug stellen und werblich mit ihm auf Bildern posieren, hat niemand ein Recht, von ihnen irgendwelche Stellungnahmen zu fordern. Genauso schlecht könnte man – und zwar egal aus welchen Herkunftsländern – Intendanten, Künstler etc. zu bekennen auffordern, wie sie zur AfD oder dem ultralinken Flügel der Linken stehen. Und wie haben sie zu den völkerrechtswidrigen Attacken der, z.B., USA gestanden, und wie stehen zahllose Künstlerinnen und Künstler, besonders des Klassikbereiches, zu dem Uigurenunrecht Chinas und überhaupt zu Peking? – Wir bekommen es hier mit einer ausgesprochen unguten politischen Schnüffelei der vermeintlich Guten zu tun, die nicht nur am „Höhe“punkt in einem schließlich um sich greifenden Denunziantenwesen à la Dogenvenedig finden wird.
Currentzis’s etwa kriegt’s jetzt zunehmend ab, etwa auch → dort. Da wirkt so etwas wie die böse rechtspolitische „Achse des [Un]Guten“.
Ihr ANH