„Falbins Krise“. Die Verwirrung des Gemüts (1983), Bearbeitung Zweiter Hand für die Neuausgabe bei Elfenbein. Textvergleich 10

Buchfassung 1983:

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Und konnte sich Falbins immer weniger erwehren. Wo Laupeyßer ging oder saß, sogar beim Fernsehen, blieb Falbin in unmittelbarer Nähe. Er ließ nicht locker, als beabsichtigte er bösartig, Laupeyßer zu einer Entscheidung vorzutreiben. Der spielte dann allen Ernstes mit dem Gedanken, einen Psychiater aufzusuchen, wogegen er, schreibend, Falbin sich später wehren ließ. Auch überlegte er, ob er nicht doch besser wieder ein Studium aufnehmen sollte. Doch war ihm umgehend klar, daß es sich nur um Flucht gehandelt hätte. Und er wollte nicht flüchten, es war Falbin ja auch nicht mehr zu entkommen. Des­halb, so dachte er, würde er ihn aufsuchen müssen, die ganze Stadt abgrasen nach ihm oder zumindest ihn im Café erwarten. So wartete Laupeyßer tatsächlich, für mehr als eine Woche saß er jeden Nachmittag am angestammten Platz vor den Fenstern mit ihren Gußeisengittern. Es wurde täglich heißer draußen. Von Zeit zu Zeit – vormittags vor allem, weil er da noch zu Hause saß –, kamen Anrufe aus dem Büro, schließlich die Kündigung, Einschreiben mit Rückschein. Laupeyßer telefonierte mit seinen Eltern, erzählte es ihnen in sprödem, gelangweiltem Sprach­duktus, hängte vor jeder Möglichkeit elterlicher Entgegnung ein. – Für zwei Tage dann wurde das Denken an Falbin vom Arbeitsamt unterhöhlt: Das zu Zwanzigergrüppchen in den hohen, angenehm kühlen Gängen des Amtes Hocken. Das Ver­wiesenwerden an die verschiedenen Beratungsstellen. Laupeyßer ward den Karteikästen integriert, geradezu nahtlos, und bis zur Bewilligung des Arbeitslosengeldes ans Sozialamt verwiesen. Er fügte sich ergeben und uninteressiert darein, holte sich die ersten zweihundert Mark. Dann erschien er wieder im Café, wo man ihn sogar zu grüßen begann, so bekannt wurde sein Gesicht. Hin und wieder fing er ein Lächeln auf. Aber der Pappkarton, der stand auf dem Wohnzimmertisch, wuchtig, bedrohlich, unverrückbar. Laupeyßer war an ihm vorbeizusehen bemüht, denn ihn kurzerhand aus der Wohnung zu schaffen, getraute er sich nicht. Statt dessen schoben die zwei Tage Emsland sich ein. Wegen des Geruchs. Und weil er die Angst wachsen fühlte. Es war aber schon deshalb ein Fehler, weil er den Bahnhof be­treten hatte erneut.

»Weil der Traumbefangene sich zu gut ist, die Arbeiter zu sehen, meint er, die Drohung käme von diesen und nicht von jenem Ganzen, das ihn und die Arbeiter voneinandergerissen hat. Die chaotische Anarchie in den Arbeitsbeziehungen der Menschen, die vom System gestiftet wird, drückt sich in der Verlagerung der Schuld auf die Opfer aus.« Adorno, Philosophie der Neuen Musik

Alle Zeiten beliebig setzen, zusammenwursteln. Denn manche Notizen sind bereits älter als drei Jahre. Während die Erzählung von Falbin selbst – nicht veröffentlichungswert – von 1978 stammt. Falbin hat mich, den »Erfinder« Laupeyßers, nicht ver­lassen seither.

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Neufassung (vor Lektorat), 2022:

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Und konnte sich Falbins immer weniger erwehren. Wo immer Laupeyßer ging oder saß, sogar beim Fernsehen, blieb der Andere in unmittelbarster Nähe, ließ einfach nicht locker. Fast bösartig trieb er Laupeyßer zu einer Entscheidung, ließ ihm keinen Fluchtraum. So daß er allen Ernstes bald mit dem Gedanken spielte, einen Psychiater aufzusuchen, wogegen er, dagegen anschreibend, sich später Falbin wehren ließ. Vielleicht hätte ich aber besser mein Studium wieder aufgenommen. Nein, nicht mehr Pharmazie. Doch wär das Flucht erst recht gewesen. Und aber er wollte nicht fliehen, es war Falbin eh nicht mehr zu entkommen. Eben deshalb werde er ihn aufsuchen müssen, und wenn er nach ihm die ganze Stadt abgrasen müsse.
Was er nicht ansatzweise tat, sondern er erwartete ihn einfach im Wallcafé. Woche um Woche saß er jeden Nachmittag an seinem nun schon angestammten Platz vorm Gußeisengitter der Fenster. Täglich ward es draußen heißer. Von Zeit zu Zeit – vormittags, wenn noch zu Hause –, erreichten ihn Anrufe aus dem Büro. Oder erreichten ihn nicht, er nahm ja nicht ab. Schließlich lag die Kündigung im Briefkasten, Einschreiben mit Rückschein. Laupeyßer erzählte es telefonisch seinen Eltern, erzählte es gelangweilt und legte auf, bevor Mutter und Vater wieder Luft kriegen konnten. Die beiden Tage danach schob das Arbeitsamt Falbin vorübergehend in die Ecke. Da hockte Laupeyßer mit etwa zwanzig anderen Leuten in den hohen, zwar kahlen, aber angenehm kühlen Gängen der Behörde. Er wurde an verschiedene Beratungsstellen verwiesen, ward fast selbst zu einem Karteikasten voll seiner Daten. Dann schickte man ihn erstmal zum Sozialamt. Bis das Arbeitslosengeld bewilligt wäre, sollten die da überbrücken. Ergeben schickte er sich drein, interessiert allein an den ersten zweihundert Mark. Danach erschien er wieder im Café, wo man ihn zu grüßen begann. Ein Lächeln fing er hin und wieder auf. Doch wuchtig stand zuhaus unverrückbar bedrohlich der Pappkarton auf dem Wohnzimmertisch, und wenn er’s auch redlich versuchte, an ihm vorbeisehn ließ sich nicht, schon gar nicht war er aus der Wohnung zu schaffen. Statt dessen schob er, Laupeyßer, die zwei Tage Emsland ein. Vor allem wegen des Geruchs. Und weil er die Angst wachsen fühlte. Es war aber schon deshalb ein Fehler, insofern er für die Fahrt erneut den Bahnhof betrat, ihn betreten mußte.

Weil der Traumbefangene sich zu gut ist, die Arbeiter zu sehen, meint er, die Drohung käme von diesen und nicht von jenem Ganzen, das ihn und die Arbeiter voneinandergerissen hat. Die chaotische Anarchie in den Arbeitsbeziehungen der Menschen, die vom System gestiftet wird, drückt sich in der Verlagerung der Schuld auf die Opfer aus.
                                                                              Adorno, Philosophie der Neuen Musik

Alle Zeiten beliebig setzen, dann zusammenwursteln. Ich nenn es mal ‚amalgamieren‘. Wobei manche Notizen schon älter als drei Jahre sind. Während die Erzählung von Falbin selbst – nicht veröffentlichungswert – von 1978 stammt. Falbins Krise“ hieß dieser Entwurf. Der Typ hat mich, den Erfinder Laupeyßers, seither nicht mehr ver­lassen.

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