Das Arbeitsjournal des Sonntags, den 10. Juli 2022. „Verwirrung des Gemüths“, ein neues Musiktheater vielleicht (Musiktheaterinstallations-Performance), die Triestbriefe, text+kritik sowie АНХс „Корабль-греза“, darinnen die furchtbare Ambivalenz. Sowie ein bißchen Einsamkeit.

 

Heute ab 17.05, swr2 lesenswert:
Carsten Otte über ANH, Die Brüste
der Béart. Dort anhören.

[Arbeitswohnung, 7.19 Uhr
Wind, Kühle]

Gestern die von meiner Lektorin bearbeitete, mit vielen, bisweilen hinreißenden Anmerkungen und Vorschlägen versehene und hergemailte zweite Tranche der Neuausgabe des in nunmehr erster Fassung 1983 ersterschienenen Romans Die Verwirrung des Gemüths bis in den späten Abend in quasi einem Rutsch durchgesehen und korrigiert, 215 von insgesamt 396 Typoskriptseiten, es war wie eine Art Rausch. Die 181 Seiten davor hatte ich ja bereits vor drei Wochen fertigbekommen. Heute vormittag nun noch einmal ein „Kontroll-Scoll“, um zu sehen, ob ich etwas übersehen habe; danach geht die Datei an Elvira zurück, und am 19. werde ich für fünfsechs Tage nach Wien fahren, um mit ihr das Schlußlektorat persönlich durchzuführen. Am 27. muß das satzfertige Typoskript im Verlag liegen, um rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse als Buch dazusein.

Verwirrung, Lektoratsbeispiel
Elvira M. Gross

Parallel lief in den vergangenen Tagen ein anderes umfangreiches Projekt an, um dessen Zuschlag sich – es handelt sich um die Ausschreibung dreier deutscher Bühnenhäuser – mein Komponistenfreund Robert HP Platz, die Bildende Künstlerin Sandra Schlipkoeter, der Videokünstler Christoph Brech, der Regisseur Oliver Kloeter und ich unter, grad jetzt in der Antragsphase, als quasi Controllerin enorm stützender Mitwirkung Sabine Krasemanns als Team bewerben. Im weitesten Sinn handelt es sich um Musiktheater, wobei es eine Mischform aus Performance und Installation werden dürfte, die allerdings steng gebaut sind, doch auch weiten Raum für Improvisation bieten. Nachdem sich unsere, vor allem Platz‘ und meine, Anfangspläne mit den Konditionen der Ausschreibung nicht  decken ließen, was Krasemann schnell herausfand, mußten wir quasi alles umwerfen, und in einer Spontanaktion schrieb ich ein völlig neues Konzept, war dann nervös, wie es ankäme, aber es lief – für mich eine erstaunliche neue Erfahrung – bestens. Jetzt mußte festgeklopft werden, mußten einzelne Szenenentwürfe her usw. Und gestern abend hat Krasemann das gesamte Ding hinausgeschickt. All das lief über Zoom und eine von ihr eingerichtete Whatsappgruppe, in der wir auch jetzt immer noch mal plaudern. Jedenfalls müssen wir nun warten; im September soll entschieden werden. Bekommen wir den Zuschlag, geht es gleich in die Vollen; ich selbst muß ans Libretto – präzise die Libretti -, Platz quasi parallel komponieren (wir werden für Komposition und Dichtung enger zusammenarbeiten als je); dann werden die Treffen des Teams stattfinden, noch in diesem Jahr, wir müssen vor allem die Häuser sehen, die Bühnen, die sonstigen Räume. Uraufführung haben wir für den Sommerbeginn 2024 avisiert. Insgesamt, wenn es klappt, wird das, schöne Frau, ein „riesen Ding“.
Also jedenfalls das kostete ebenfalls Zeit, einige. Jetzt steht für mich ein kleiner Radiotext an, der nicht nur angegeben, sondern auch eingesprochen sein muß, bevor ich in den Zug nach Wien steige. So richtig einen Einfall habe ich noch nicht, zwar schon anderthalb Seiten halt auch eher hingeworfen als geschrieben, aber sie sind mir zu trocken, zu theoretisch, um Leben im Klang entfalten zu können und dann noch eine „Botschaft“ zu enthalten und zu vermitteln, die wiederum selbst mir allerdings klar. Wieder einmal wird es um Ambivalenzen gehen, allerdings diesmal der Verschlingung von Leben und Tod.

Und der Triest-Briefroman ist nun zum zweiten Mal soweit durchgesehen und korrigiert, umgeschrieben, ergänzt, wie er bereits als Text vorliegt; wie ich Ihnen, Freundin, schon erzählte, sind noch sieben Briefe zu schreiben. Wobei ich leider gegen Ende des zweiten Durchgang eine – n i c h t „leider“ – ziemlich wichtige Idee hatte, die nun noch einen dritten Durchgang erforderlich macht, um nämlich die „Hauptperson“, von der erzählt wird, noch deutlicher konturiert von dem Ich-Erzähler abzusetzen, der mir mit dem anderen manchmal noch z u sehr verschmilzt. So daß mir klar wurde, beide müßten verschiedene Berufe haben; der des Erzählers ist klar, indes es sich zwar bei der Hauptperson angeboten hätte, auch sie wieder zu einem Bildenden Künstler zu machen, doch in der Tat, das wäre nun entschieden zu nahe an → Meere. Was also nun? Die Lösung war die naheliegendste aller. Aber gerade sie braucht Fleisch und Klang. Das ist ihr im dritten Durchgang zu geben, mit dem ich vielleicht heute schon anfangen kann, wenn die Verwirrungs-Fahnen fertig und hinaussein werden und ich vielleicht auch schon einen annehmbaren Entwurf für den Rundfunkbeitrag habe.

Ach ja, außerdem waren die Fahnen meiner eigenen – allerdings nicht langen – Textbeiträge durchzusehen, für die ich von der Redaktion des im September zu meinem bisherigen Gesamtwerk erscheinenden text+kritik-Bands gebeten worden bin; ist ja schon einiges her, weil Corona das Erscheinen um ein ganzes Jahr verschoben hat.  Nun wird es aber definitiv herauskommen, und zwar bereits im September. Ich mußte und wollte deshalb auch unbedingt noch etwas hinzusetzen, bzw. einmontieren und hoffe nun, daß meine „Lösung“ funktioniert. Was es ist, dazu schreib ich hier nicht. — U n d: Es sind böse Zeiten dafür, leider, aber meine großartige russische Übersetzerin, Tatiana Baskakova, hat mir die Umschlagentwürfe der russischen Ausgabe des Traumschiffs geschickt, die noch im August da sein soll, gebundenes Hardcover, sehr schön gesetzt (ich habe eine PDF der Druckfahnen, die ich allerdings nicht lesen kann, klar), mit einem ausgesprochen langen Nachwort Baskakovas, tatsächlich einem Anmerkungsapparat und sogar Auszügen aus den Seereiseberichten Der Dschungel, die teils Grundlage des Romantextes wurden. Von den Umschlagentwürfen gefallen mir zwei, diese:

K e i n schönes Gefühl, sich einerseits rasend darüber zu freuen, und zum anderen, sich freuen gar nicht mehr zu können, weil dieser entsetzliche Krieg währt und, wie es aussieht, in absehbarer Zeit auch nicht zuende sein, sondern sogar zu befürchten ist, daß er sich ausweiten wird, auch zu uns und über ganz Europa. Da erscheint solch Übersetzung als derart marginal – was sie aber bei der Hingabe nicht ist, mit der Baskakova übertragen hat, und ihrer Genauigkeit. Und aber das Thema selbst des Romans bleibt ja, wird Menschheitsthema immer sein, völlig gleichgültig, welcher Nation jemand angehört. Ich hatte Tania auch geschrieben, wie ambivalent dies alles nun für mich sei und daß die Menschen sowohl in der Ukraine als auch in Rußland doch ganz andere Sorgen hätten, und schwere Nöte, um an einem übersetzten deutschen Buch Interesse haben zu können. Sie indes schrieb mir zurück, gerade jetzt, in diesen Zeiten, sei Literatur für manche Menschen wesentlich, sie halte sie am Leben. Es wäre für mich, oder sollte es prinzpiell sein, einfach, diese Sicht zu übernehmen, die ich auch für begründet halte. Nur b i n ich kein einfacher Mensch.

Ihr
ANH

P.S.:
Immer mal wieder leichte Anfälle von, nein, liebste Freundin, nicht Einsamkeit, aber einem Gefühl von Alleinsein, innerer, quasi, Emigration. Ich hab es im Griff, doch ein bißchen tut es schon weh.

***

[20.49 Uhr]
Ich fasse es selbst nicht: den Rundfunktext für Gutenbergs Welt in einem Rutsch geschrieben, dann durchgearbeitet und bereits die Erste Fassung erstellt, die soeben an Manuela Reichart hinaus ist. Morgens hatte ich noch Zweifel, ob mir die zündende Idee käme, die zwar, als Idee, aber nur schmauchend, gestern schon da war, aber halt ohne jeden Zug. Unversehens wurde es anders — was eine über Jahre erlebte Erfahrung bestätigt, die aber nicht mehr in meinem Körpergedächtnis war, — daß nämlich, wenn man einfach stur weiterarbeitet, irgendwann der Punkt kommt, an dem das Gehirn geradezu automatisch loslegt und mir die Finger führt. Dann braucht es später nur noch den dramaturgisch strukturierende Konstruktionsblick, schon ist das Ding fertig, und zwar mit Ideen und Thesen, die s i c h  e r s c h r i e b e n. Das Selbst als autonomes Subjekt ist gar nicht gefragt.
Die sonderbare Ambivalenz heißt nun mein Text, von dem ich selbstverständlich nicht verrate, wer mein literarischer „Held“ ist. Das sollten Sie, Freundin, dann hören.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .