[Arbeitswohnung, 7.17 Uhr
Stille, fast sonntäglich bereits.
Seltsames Vermissen rauschenden Regens.]
D a s sind Töne, die ich vom “klassischen” Literaturbetrieb nicht nur nicht gewöhnt bin, sondern so noch niemals gehört habe:
Sehr geehrter Alban Nikolai Herbst,
anläßlich des bevorstehenden Jubiläums vom TEXT + KRITIK möchte die edition text+kritik eine Publikation herausgeben mit Texten derjenigen Autorinnen und Autoren, deren literarischem Schaffen und Wirken ein Heft der Zeitschrift gewidmet würde — ein Zusammenspiel jener Stimmen, die für die Redaktion und die Herausgeber maßgeblich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in ihrer großen Vielfalt ausmachen.
(…)
Wir wären mehr als glücklich, wenn es mit Ihrer Beteiligung zu einem schönen Zusammenspiel käme und freuen uns so oder so auf Ihre Rückmeldung.
Hier eingegangen nicht als Mail, sondern ich fand den, um das Wort noch einmal zu strapazieren (es faktisch aber zu ehren), “klassischen” Brief in meinem Briefkasten, als ich abends von dem Beelitz-Heilstättener Ausflug zurückkam:
Zu dem ich, wie ankündigend-vorgenommen bereits gestern erzählt, selbstverständlich das ausgedruckte Typoskript der Triestbriefe mitgenommen, wenngleich nicht ein einziges Mal hineingeschaut habe; das wäre auch nicht nötig gewesen, sondern es geht um etwas anderes, seelisch-psychisches — eine poetische Einnordung. Sie können, Freundin, von dem ästhetischen Kompaß sprechen, der tatsächlich imaginär, dennoch wegleitend ist (“Realitätskraft der Fiktionen”). Auch wenn ich es, das Typoskript, mit der Tasche in eines der Fächer einschloß, das, ähnlich einem Museums- oder Bibliotheksbesuch, den Besuchern des Barfußparkes frei zur Verfügung steht, trug ich’s doch in Gedanken mit mir mit, abgelenkt nur, wenn लक्ष्मी und ich sprachen oder wir mit den Zwillingen sprachen oder eine “Aufgabe” zu bewältigen war, die Konzentration verlangt, etwa bei Balanceakten, also Gleichgewichtstraining, sowie über Scherben oder, ganz fies, kleine Kiefernzapfen zu schreiten und, was ich besonders genoß, durch nassen Torf zu stapfen, der wie schwarzer Schlick im Wattenmeer ist, in den hinein, schönste Freundin, Sie bis zu den Waden sinken, gefolgt vom Durchschreiten eines kalten Gewässers, das den gröbsten Matsch von der Haut wieder wegwäscht. Was noch haften bleibt, sieht schließlich wie eine hauchdünne Nylonsocke aus. Hier ein noch Stadium davor:
Besonderes Zusammenbeißen der Zähne verlangt allerdings der Gang über die Schalenhälften von Kokosnüssen; da geht’s dann wirklich zur Sache. Was mir ausgesprochen gefällt; लक्ष्मी und ich beschritten den kleinen Parcours denn auch gleich drei Mal hintereinander.
Die Idee zu diesem Ausflug war von i h r gekommen, die in Heilstätten schon einmal gewesen ist — einem für mich auch in anderem Sinn spannenden Ort, weil die sechzig größtenteils noch nicht wiederhergestellten Gebäude für meine Phantasie ausgesprochen anregend sind, zumal sich → allerlei “unheimliche Geschichten” in sie hineingerankt haben, die mir hätten ganz von allein, also ohne Fremdberichte, einfallen können und naheliegenderweise — um nicht von “genretypisch” zu schreiben — mit dem Tod zu tun haben. Nun jà, es ist einmal ein Lungensanatorium vor allem zur Behandlung der Zauberbergkrank-heit gewesen, die Menschen wie Geschehen durchscheinend macht: Ich assoziiere sofort das Wort “ephemer”. Sind Sie aber an den Ruinen vorbei, deren Schönheit selbst im Verfall noch berückt, wird es ein Sonntagsausflugsfamilienressort, das so spannender- wie “organischer”weise die Sinnlichkeit von der Konkretion unter den Fußsohlen zur – fernöstlich inspirierten – Versenkung in den Geist führt. Auch dieses, Sie kennen meine Schriften, ist mir nah. Doch davon abgesehen, ist gerade für mich der Heileffekt dieser, sagen wir, Kneipptour extrem. Ich meine, gegen die von der Chemo hinterlassene Polyneuropathie in Unterschenkeln, Waden und vor allem den Füßen. Schon vor einem Jahr, auf der Isola del Giglio, hatte ich erfahren, wie lindernd es ist, dauernd barfuß über spitze Steine, Kiesel, aufgeheizte Felsen usw. zu gehen; nach zwei Wochen waren die Symptome geradezu verschwunden (und kehrten fast sofort, nachdem ich wieder in Berlin war, zurück); ähnlich vor rund einer Woche beim → Lektorat in Bad Fischau, wo ebenfalls dauernd über spitzen Kies zu schreiten war. Da spürte ich Linderung bereits am zweiten Tag. So daß ich nun mit dem Gedanken liebäugle, mir eine barfuß-Kur verschreiben zu lassen; ich hatte eh nach Giglio gescherzt, die Krankenkasse solle mir einen Umzug nach Süditalien und die Wohnung dort finanzieren, es käme sie gewiß weniger teuer als jetzt die ganzen blöden Medikationen, die lästige Physiotherapie usw. Das werkelt alles nur an den Symptomen herum; gewöhn ich mir hingegen für geeignete Gelände barfuß zu gehen an, würde ich sie wahrscheinlich komplett loswerden. Und die Vorstellung läßt mich zufrieden lächeln, dennoch in Anzug und Krawatte zu gehen. Es gibt einfach sexy “Widersprüche”. Fast immer reagieren sie mit Natur auf Natur.
Dazu indes auch seelisch. Schon in Wien gab es ja → diesen Moment, unversehens wieder Familie zu sein — wozu, eine Frau zu “haben”, unbedingt gehört —, einen Moment mithin, in dem ich spürte, wie sehr es mir fehlt. Gestern, die Fotos zeigen es, erneut… auch wenn unser Großer jobhalber leider nicht mitkommen konnte — “nur” eben während einen vollen Tag, von indessen dem ich jetzt wahrscheinlich so ausführlich erzähle, um mich auf den dreiunddreißigsten Triestbrief schon mal einzuschreiben — um den Fluß herbeizuverführen, den gute Erzählungen in meiner Sprache bewirken, ihn anzulocken, er möge in die Sätze fahren, die mir, geht es gut, stets zu so bewegten Innenbildern werden, daß ich am Abend von ihnen wie bekifft bin. Also den friemeligen Überarbeitungsmodus nach den nunmehr fünf Durcharbeitungsgängen dessen, was schon da ist, zu verlassen und wieder großzügig zu werden, in beiderlei Sinn, und im Licht poetischer Grandezza zu fantasieren. Was später dann, logo, ebenfalls wieder kleinteilig durchgearbeitet, kontrolliert, korrigiert, kurz: perfektioniert werden muß. Noch aber ist es wieder die Zeit der poetischen Freiheit. Sie werde ich nun auskosten, wobei … erst einmal ist für Anfang September die Reise nach Triest zu buchen, sowohl Hin- und Rückfahrt als auch AirBnb. Vorher indes will ich ins Bad und hernach mich kleiden. Woraufhin ich bei meinem Änderungsschneider noch ein bißchen was abolen muß, weil er sich ab Montag zwei Wochen lang im Heimaturlaub erholen wird — ich gönn es ihm von Herzen
Ihr ANH
P.S.:
Es gibt im Barfußpark ein riesiges, aus Holzlatten, Ästen und Reisig erschaffenes — nun jà, der Diminutiv geht fehl, weil es eben so groß ist — Maskott”chen” namens Waldemar. Was an dem Troll fasziniert, ist, daß er je nach Blickwinkel entweder lächelt oder eine Traurigkeit vermittelt, die sehr verständlich wird, wenn Sie sich den ausgetrockneten Zustand des Waldes anschauen. Hier ruft doch alles nach Hilfe. Weshalb ich, als ich dieses Journal begann, das Rauschen draußen fallenden Regens vermißte, obwohl die derzeitigen Temperaturen für mich selbst ideal sind; jetzt, mit 25 Grad, find’ ich’s sogar a bisserl kühl und sehne wider alles ökologische Bewußtsein die nächsten 35 herbei. Mit aber zunehmend schlechtem Gewissen.
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[16.15 Uhr]
Ein, scheint es mir, wunderbares Angebot gefunden, unterm Strich für 27 Euro pro Nacht, zentral gelegen mit einem für dieses Buch wirklich passenden Eingang:
U n d diese Unterkunft, ein Einzelzimmer in einer 160-qm-Wohnung, deren Salon mitnutzbar ist, liege auch noch nahe der Piazza dell’Unità d’Italia, auf der die Venere di trieste steht, auf die sich der Roman immer wieder bezieht. Vor Ort werde ich jetzt nur noch gucken müssen, ob ich für die Suche nach Lenzens oben im Karst befindlichen Grenzhäuschen werde irgendwo eine Vespa mieten können. Aber erst – auch, bevor ich An- und Rückreise buche – muß ich die Bestätigung der Unterkunft abwarten; als Mail bekam ich nämlich erstmal nur dies:
Bene. So geht es – und Barenboims Mahler VII starten – nun wirklich endlich los:
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