Aufrechter Rebell Sehr schöner Nachruf – weil er sich nicht scheut, auch Liebe zu zeigen – für Hans-Christian Ströbele heute → in der taz. |
[31. August, Arbeitswohnung, 18.23 Uhr Keith Jarrett, Solo à Nogent-sur-Marne 1981] |
Seltsames Gefühl, seit vierfünf Tagen nicht mehr direkt am Triestroman-Typoskript geschrieben, sondern statt dessen die Zeit mit Romankonstruktionsplänen, Notaten usw. verbracht zu haben — seit vorgestern der Freitestung aber vor allem mit der Reisevorbereitung (am Montag abend wird es losgehn) beschäftigt gewesen zu sein und weiterhin zu sein, das geplante Tattoo auf dem und um den Bioport herum noch vor der Abfahrt realisieren zu lassen. Was jetzt, nach Rücksprache in insgesamt vier Tattoostudios, die alle zögerten, sich nach meinem Geschmack jedenfalls zu unsicher zeigten, offenbar geklappt hat, dank der (welch hübscher Name)→LSD[1]Auch das Viertel des Prenzlauer Berges, in dem ich lebe, heißt so, „LSD-Viertel“ – für Lychener, Schliemann- und Dunckerstraße Berlin Tattoo Studios, die, wie sich gestern abend bei seinem Besuch herausgestellt hat, ein Begriff auch meinem Sohn sind, der mich vioelleicht am Freitag nachmittag, also morgen, sogar begleiten wird. Denn da wird, was ich mir ungefähr vorstelle, von einer Frau mit ausgerechnet dem Namen Elena um 15 Uhr gestochen werden. Mein, siehe oben, eigener Entwurf, eine linksläufige Triskele, die aber sehr, ich möchte schreiben und tu es, feinhaarig sein soll – eher noch rankenähnlich-pflanzlich, soll der Tätowiererin nur als Ideengrundlage dienen, als Orientierung sozusagen, die sie im von mir als eben pflanzlich verstandenen Sinn mit eigener Phantasie ausgestalten darf. Wichtig ist die Linksläufigkeit, die ebenso auf weibliche Energien verweist wie sehr deutlich das auf der Spitze stehende शक्तिsymbol des Dreiecks; Rechtsläufigkeit wäre mir nicht zuletzt deshalb zuwider, weil solche Triskelen immer wieder von, sagen wir euphemistisch, nationalreaktionären „Bewegungen“ okkupiert und mißbraucht werden, unerachtet der eigentlich → triskelen Bedeutungshöfe. Sowieso darf in meiner Vorstellung aus diesen drei Ranken sehr gerne auch hier und da ein Baum- oder Buschblatt sprießen, was ich möglicherweise über die Zeit auch immer mal wieder ergänzen lassen werde. Das Motiv soll leben, muß sich also verändern können. Jedenfalls werde ich diese Krebsspur auf diese Weise in meinen Körper imtegrieren – ganz so, denke ich mir, wie sich eine Dschungel das von Menschen verlassene Dorf nach und nach in sich zurückholt und es also überwächst. Es wird sich dies auch deshalb realisieren lassen, weil Elena, die aber gestern leider nicht da war, doch mir ans Herz gelegt wurde, fotorealistisch arbeitet. Was ich an Beispielen zu sehen bekam, war jedenfalls enorm. (Übrigens wäre es bizarr, wollte ich als „cis-Mann“ in dem Tattoo meine Männlichkeit noch betonen; es muß mir im Gegenteil um Weiblichkeit gehen, Huldigung und Beugen des Knies zugleich.) — Gut, dies also wird – ganz, wie ich es mir gewünscht habe – noch vor Triest Wirklichkeit werden.
Etwas zweites ebenfalls. Ich schrieb Ihnen, Freundin, schon, daß ich mir in Triest für die Karst-Recherchen eine 125er gemietet habe. Da ich nun aber motorrad- und auch rollerhalber ein komplettes Greenhorn bin, will ich hier in Berlin mit genau dem angemieteten Modell, einer Piaggio Liberty 124, einen ganzen Tag verbringen. Ab nachher zehn Uhr steht die Maschine in Moabit für mich bereit, mich vierundzwanzig Stunden lang auf ihr einfahren zu lassen; immerhin soll sie in der Spitze 95 khm/h bringen, was ich sicher nicht oft nutzen werde; daß ich überhaupt eine solch kräftige Maschine wählte, liegt an den vielen heftigen Steigungen im Karst. Wer will da plötzlich liegen bleiben? Aber ich will und muß das Ding beherrschen. Also abermals kein Schreib- , sondern ein Herumgurktag, sozusagen autodidaktische Fahrschule. Erstes Ziel wird nachher der pleasure ground des Glienicker Parks sein; mal sehen, wie ich hinkomme, falls die Avus noch gesperrt ist. Ein Stück Stadtautobahn ist ebenfalls nötig, dann wieder ländliche Strecken, am besten auch Schotterwege. Stadt ebenfalls, auch wenn ich in Triest selbst die Maschine eher nicht nutzen werde, doch dort für die etwas weiteren Strecken Richtung Opicina und Sconico (dort zur Grotta gigante, einem der für den Roman entscheidenden Orte) sowie nach Duino weiter. Und zurück, Barcola, wo die Sìdhe gerne zwischen dem Schloß Miramare und dem Faro della Vittoria schwimmt (die ganze Zeit über eigentlich nur kraulend), sowie über die viale Miramare wieder nach Trieste hinein. Etwas zumindest entfernt Ähnliches möchte ich auch hier in Berlin abfahren. Fast ebenso wichtig, auch mal nachts auf den Rädern zu sein. Jeder
Handgriff soll schon sitzen, wenn ich in Triest die Maschine entgegennehme; sie sollte mir sehr gut vertraut sein. Wobei ich das Mietdatum möglicherweise um einen Tag vorverlegen muß, weil die Triester Wettervorhersage für meine „ursprünglichen“ Miettage schwere Regenfälle voraussagt. Da warte ich aber noch die Voraussage des Freitags, vielleicht sogar des Montags ab, an dem ich abends in den Flixbus steige.
Daß ich in Triest diesen Scooter fahren werde, bedeutet für die Planung, auch bekleidungstechnisch entsprechend vorbereitet zu sein. Für die Stadt selber brauche ich selbstverständlich, gerade in Trieste, Anzug, Hemd und Krawatte; für die 125er aber Lederjacke usw. Und also sowohl gute Lederschuhe als auch Sneakers, bzw. Chucks. Die Packerei wird ein logistischer Akt und der Rucksack ziemlich schwer werden.
Doch jetzt, liebste Freundin, ab in den Tag!
Ihr ANH
1. September, 8.30 Uhr
[Keith Jarret, Solo Manchester 1982]
References
↑1 | Auch das Viertel des Prenzlauer Berges, in dem ich lebe, heißt so, „LSD-Viertel“ – für Lychener, Schliemann- und Dunckerstraße |
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