[Arbeitswohnung, 9.47 Uhr
Allan Pettersson, Sechste]
Verzeihen Sie, Freundin, Sie haben ganz recht. Längst hätte ich zumindest → die Serie meiner Messefotografien fortsetzen, ja sogar abschließen müssen. Aber ich hatte einfach nicht die Zeit, weder auf der Messe selbst, noch sehe ich heute die Möglichkeit – zumal es bereits am vergangenen Freitag das Problem gab, daß sich die Bilder nicht vom Ifönchen auf den Laptop übertragen lieben, bzw. das schon, aber wollte ich sie in Die Dschungel laden, bekam ich dauernd die Mitteilung, dieser Datentyp sei nicht erlaubt. Und um micht darum zu kümmern, war mein Terminkalender wirklich zu voll. Ich werde es aber noch angehen, versprochen. Um einige Aufnahmen wäre es auch definitiv zu schade, würden sie sozusagen unterschlagen werden. Immerhin kann ich von der Messe jetzt erzählen, und will es.
Es war bisweilen schon rauschhaft, auch ganz ohne Alkohol. Was selbstverständlich nicht der Fall war, also daß wir die Zeit abstinent verbracht hätten. Der Schlafmangel kam hinzu, erste Nacht noch fünf Stunden, dann vier, die vorletzte zweieinhalb; da ich, um nicht zu essen zu vergessen, dreimal auch von den THC-Tropfen nahm, geriet die Wahrnehmung zeitlicher Konturen mitunter ins Schwimmen. Andererseits lief ich Kilometer – allein, weil der PEN Berlin -Stand den Elfenbein– und Arcoständen diagonal exakt gegenüberlag, ich also ständig die Halle 3.1 gewissermaßen durchpflügte; über den Tag kommt da einige Strecke zusammen, auch wenn ich immer wieder Zwischenstationen bei Faust, text + kritik und mare machte. Nicht nur dort, selbstverständlich. Ich gebe gerne auch zu, den durch t+k erlangten neuen Status durchaus sehr genossen zu haben, einfach weil ich mich freier fühlte als sonst: Ich mußte nicht mehr defensiv aktiv, also nicht mehr irgendeines zumindest versteckten Mobbings gewärtig sein, gegen das sich zu stemmen gewesen wäre. Es war eher so, daß unvermittelt Leute auf mich zukamen, mir gratulierten, mich auch baten, vielleicht hier und da ein Wort für sie einzulegen, also für ihre Literatur; und immer wieder bekam ich Komplimente für Die Dschungel, etwas, das ich von Fremden so nicht gewöhnt war und es eigentlich immer noch nicht bin. Vor allem, Gesichter zu meinen Zugriffszahlen zu sehen, deren Auslöser mir doch weitgehend unbekannt waren, auch wenn ich wußte, daß es sie logischerweise geben mußte. Das schönste Kompliment machte mir … nein, sag ich nicht. Doch es war extrem überraschend. Und schon war er weg, grad noch mein „O danke“ im Fahrtwind.
Bei Faustkultur Michele Sciurda, der finanzierende Verleger: „Warum haben wir noch immer kein Buch von dir?“- Problematische Frage. Ich wußte ja, sagte ich eines zu, daß ich meinen anderen Verlagen gegenüber illoyal würde, Also „ich schau mal“ gesagt. Mein Arco-Verleger verzog denn auch, als ich davon erzählte, das Gesicht. Die Lösung dann | war – nicht meinerseits, sondern vom Schicksal – genial. Abends nämlich fand das Messepräsenzfest der → edition faust statt, auf dem der Verlag seine Autorinnen und Autoren vorstellte, übrigens wunderbar von Harry Oberländer moderiert. Und da dann sprach er mit dem Zeichner Alexander Pavlenko, der für Faust den Faust I als Graphic Novel gestaltet hatte.
Nun haut mich dieser erste Faustteil bekanntlich nicht vom Stuhl; ich weiß einfach nicht, was ein Intellektueller vom Schlag des Doktor Faustus von einem Mauerblümchen will – daß sowas nur katatrophal enden kann, ist so logisch, daß mich Langeweile überkommt. Anders aber, liebste Freundin, völlig anders ist Faust II. Und da nun sprach Pavlenko den Satz: „Ich verstehe, daß Faust II für viele Menschen schwer zu verstehen, weil einfach zu komplex ist; für einen Zeichner aber ist jede Szene ein Rausch.“ Und ich, ich wußte. Mit dem Mann willst du was tun! Es war, ums philosophisch zu stanzen, von unmittelbarer Evidenz.
Gut, die Veranstaltung war vorbei, ich stand schon draußen vorm → Papageno, der, wie’s heutzutage heißt, „Location“ des Abends, stand rauchend mit Sascha Anderson im Gespräch (über Lyrik, na klar, über Lyrik, nix sonst), und Sciurba erschien. Ich: „Michele, sag mal, du hast doch wegen eines Textes gefragt. Was hältst du denn davon, wenn ich eine Erzählung gebe, und ihr macht eine Graphic Novel daraus?“ Er: „Sofort, ja sofort! Was eine I d e e !!!“ — Nächstentags am Fauststand, Pavlenko war da, signierte, signierte mit jedesmal einer eigenen Zeichnung, die Bücher waren im Nu verkauft, es war Sonnabend, der Auslieferer nicht erreichbar, ärgerlich, aber auch schön, sechzig Exemplare in kaum einer Stunde warn weg. Eigentlich wollte und sollte ich mit dem Zeichner sprechen, es hatte keinen Sinn, neue und neue Menschen drängten um Autogramm und Bild herbei. „Kommen Sie doch zu Arco, einfach nur den Gang bis ganz nach vorne runter.“ – Und schon war er dann auch da.
Arcoverleger Haacker überreichte ihm → mein NewYork-Buch. Wir plauderten, er ging nochmal weg, kam mit zwei seiner großen Arbeiten zurück, es läßt sich längst „berühmten“ sagen: „Le Fantôme d’Odessa“ sowie „Herzl: Une Histoire Europeenne“, die er beide durchblättern ließ, zu denen er erklärte. Ich fühlte mich nur noch bestätigt. Ja, mit ihm wollte ich arbeiten – auch wenn mir, oder vielleicht gerade weil mir Comics und Graphic Novels erst recht, lebenslang fremd geblieben sind. Jetzt aber kommt mir die … nein, nicht „Übertragung“ oder „Übernahme“ in eine Graphic Novel geradezu wie eine Verfilmung vor, aber eine von der Art, die schließlich gleichberechtigt neben dem Buch steht und nicht etwa pure Illustration ist. Wobei ich an Faßbinders „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin denke, nicht etwa an die flachen Hollywoodverfilmungen à la Karamasov. – Jedenfalls, bevor ich an Die Dschungel ging, brauchte ich gestern die Zeit, meine Wahlerzählungen herauszusuchen und zu formatieren sowie sie Pavlenko zu mailen. (Abends kam mir dann noch eine in den Sinn, eine, die sich sogar ganz besonders eignen würde. Wieso war sie mir nicht gleich eingefallen? Egal, jetzt schaue ich erst mal).
Dies also das. Daneben lief allezeit der PEN Berlin – Stand auf ziemlichen Hochtouren, auch interner Aufrührchen wegen, über die ich jetzt nichts schreiben mag und auch sowieso nichts – allenfalls das, daß es um den diesjährigen Buchpreisträger, Kim de l’Horizon, ging, der halt zugleich eine Buchpreisträgerin ist, mithin binär — läßt sich „veranlagt“ sagen? Und auf den sich ein übler Shitstorm gestürzt hatte. Wir sollten dazu Stellung nehmen, explizit. Ich meinerseits fand, daß dieses deutlich genug war und also, wie das Wort es sagt, genügte:
Das tat es offenbar nicht. Eine unserer besonders empfindlichen Fraktionen bekam schließlich den folgenden Post:
Nà, meinetwegen. Wenngleich ich – Achtung, ich persönlich, nicht „ich-als-Mitglied-des-PENs Berlin“! – meine, daß Reaktionen solch böser Art in unserer zu diesem Thema hocherhitzten Gesellschaft zu erwarten und möglicherweise durchaus einkalkuliert waren; sie lassen sich als erwünschte Buchwerbung sehen, vor die wir nun mit eingespannt wurden, ganz vorne als zweites Zugpferd neben dem Buchpreis-an-sich. Sozusagen im Schwitzkasten machten wir mit, kurz vorm Abklopfen auf der Matte – abermals: meine Einschätzung oder auch gerne „persönliche Interpretation“. Wobei übrigens auch dieser zweite Post immer noch nicht genügt hat. Doch wär es Zeitverschwendung, auch darauf einzugehen; ich ginge jede Wette ein, daß das Geschehen Gegenstand auf der Jahreshauptversammlung des Berliner PENs anfang Dezember werden wird. Zum Buch selbst übrigens kann ich nichts sagen; mein Eindruck aus dem, was ich hörte und las, läßt mich vermuten, daß der|ie Autor|in tatsächlich einiges, auch und gerade formal, gewagt hat. Was mich mit dem Text-für-sich deutlich symapthisieren läßt, ohne daß er mich wirklich interessierte. Es ist wie mit Frauenliteratur ./. von Frauen geschriebener Literatur. Letztre verschlinge ich grad, unterdessen geradezu süchtig; um erstere mache ich Bögen wie um jeglich andere Ideologie. (Britten hat niemals „schwule Musik“ geschrieben, nicht einmal schwüle. Sondern — Musik, und zwar große.)
Nett – dies noch nachgetragen – war schon das Aufrührchen No 1. Nämlich hatte die Messe dem Berliner PEN d i e s e s Schild verpaßt, ohne die handschriftliche Korrektur selbstverständlich:
Das erste Wögchen schwoll denn gleich auf: Wir maßten uns an, jetzt schon der PEN-insgesamt zu sein; das „jetzt schon“ läßt freilich stutzen, aber nur dieses zurecht. Wobei sich Arco hätt achsenermächtigen können, indem – wiederum nicht der Verlag, sondern die Messe – Wien heim ins Reich holen ließ (leider hab ich kein Foto). Das Schild nämlich d a ließ uns lesen:
___________________________________
ARCO Verlag . Wuppertal & Wien . Germany
Protesterl gab es keine. Statt dessen wurde h i e r nur gelacht.
Und klar, es ging auf der Messe auch immer wieder um die Triestbriefe, ging auch um meine Schriften zu Literatur und Musik. Vor allem aber hatte meine Lektorin, Elvira M. Gross, die leider bereits freitagmittags zurück nach Wien fuhr, eine grandiose Idee. „Warum sprichst du nicht Anderswelt als Hörbuch ein?“ Da saßen wir bei Arco. Elfenbein übrigens gleich gegenüber. Jedenfalls war ich Flamme erst, dann sogar Feuer, auch wenn ein Hörbuchverlag, den mir Elfenbeins Verleger empfohlen, gleich bisserl Wasser draufkippen mußte. Aber ich denke mir, wenn die Verlage nicht wollen, gut, dann richte ich eine Onlinepräsenz eigens für dieses Projekt ein. In den kommenden Wochen werde ich jeden Tag eine Stunde einsprechen, und zwar beginnend mit THETIS. „Dann könnte ich mir“, so weiter Elvira, „die ganze Anderswelt doch anhören.“ Also, Freundin, imgrunde werd ich’s alleine für sie tun und dann sehen, was sich draus machen läßt. Heute schon wollt’s ich beginnen, aber dieser Text hier wird überraschend lang, da werd ich’s kaum mehr schaffen. Ich werd ja noch korrekturlesen müssen.
Elvira also war fort, da fragte Sciurba, ob ich nicht abends mit ihm, seiner Frau, Oberländer und Pavlenko essen gehen möge. „O eigentlich gern. Aber ich bin mit meinem Arcoverleger und Konrad Kuhn verabredet, einem seiner Übersetzer, der eigentlich aber der Magendramaturg von Claus Guth und hier an der Oper Dramaturg ist. Denen mag ich nicht absagen.“ „Dann kommen die beiden einfach mit.“ — Was geschah. Und s o fing der grandiose Abend – ach, leider ohne Elvira – an:
Mehr muß ich dazu, glaub ich, nicht schreiben. Doch auf ein andres zu sprechen noch kommen, — daß Helmut Parallalie Schulzes tetraglott nämlich erschienen ist, nicht nur ein Meilen-, nein Hundertkilometerstein für meinen Freund:
Und auf welches Interesse das Buch stieß, besonders bei den Lyrikern! Es war einfach klasse, auch wenn der Pilotenstreik verhinderte, daß der Dichter selbst erscheinen konnte. Am Morgen seines geplanten Abflugs von Rom wurde der Abflug gestrichen. Andernfalls hätte er vorgelesen. Jetzt werden wir sehen, für ihn in Berlin eine Veranstaltung zu bekommen, direkt im Umfeld des PEN Berlin – Kongresses anfang Dezember. Als Gründungsmitglied sollte er eh nach Deutschland kommen; die Lesung freilich liefe getrennt. Ich denke ans → ausland oder sogar das → Haus für Poesie. Doch darum soll sich der Verleger kümmern; ich selbst stünde freilich „nachzuhaken“ bereit, muß aber ja selbst erstmal einen Ort für die → Béartgedichte finden. Wofür ich eine Idee schon habe, aber noch das Konzept schreiben muß, bevor ich dann endlich wieder an die Triestbriefe komme.
À propos: Da Elvira und mir die Karlsruher Lesung abgesagt wurde, die am 18. hätte stattfinden sollen, hatte ich einen ganzen Tag Zeit, wie in Triest die Triester nun die Frankfurtmainer Spielorte des Romans aufzu- oder überhaupt erst zu suchen, Was ich nutzte. Mindestens dreißig Kilometer bin ich an diesem Tag gelaufen und hab nun fast hundert Bilder, ja, ganz zum Schluß fand ich sogar den Blumenladen, den ich im Roman an einen Ort „verfrachtet“ hatte, der nicht einfach nur nicht ging, sondern für so ein Geschäftchen auch restlich absurd war. Doch, Freundin, schauen Sie mal:
— und das in diesem „Schatten“! :
Ich war vor Freude nur noch geflasht. Ganz ganz kurz vor Messebeginn. Nun stimmt hier (beinah) alles, vor allem der Weg vom Lädchen zu Yōseis Zimmer in der Nordend/Bornheimer Herbartstraße 13, auf dem, dem Weg, die Sharonsídhe sich aus der Windsbraut herauslöst. Es war wirklich kaum zu fassen, ist es eigentlich immer noch nicht.
Hab ich jetzt was vergessen? Ah, stimmt, ich war bei Phyllis Kiehl, die mich zum Südbahnhof fuhr, weil ich nun wirklich viel Gepäck bei mir hatte:
Doch nicht nur das. Selbstverständlich wollte sie → mein Tattoo sehen – und war doch sehr erleichert, daß es gar nicht wie eines, sagte sie, aussieht, sondern viel eher nach Malerei wirkt. Doch etwas anderes machte sie stutzig: „Du hast den Körper eines Jugendlichen bekommen nach dem Krebs.“ Was mir auch schon aufgefallen war, mehrfach, logisch. Nur der Körper, nicht das Gesicht, ebensowenig die Hände. „Eigentlich müßte man davon eine Fotoserie machen. Es hat etwas von einem Wunder. Selbst dein Körper ist Literatur, fügt sich komplett in die Fiktionen.“ Was ich allein als Gedanken spannend finde. Und wäre also offen auch hier. „Leider bin ich keine Fotografin. Aber vielleicht eine gezeichnete Serie …“ Womit schon wieder die Graphic Novel im Raum stand.
Jedenfalls ein schöner Vormittag, als Abschluß wirklich gerundet.
Und damit gerundet | ist nun auch dies.
Ihr, liebste Freundin,
ANH
Sie fragen, weshalb das Handbild oben? Es hat mit dem Tattoo zu tun.