Rossis dritte Begegnung. Briefe nach Triest, 63.

[Siebenunddreißigster Brief, Ende:]

(…)

Es wurde ein nicht netter, sondern tief angenehmer Abend. Pietro und Jan verstanden sich sofort, obwohl dieser sich nicht ganz sicher war und es niemals werden würde, ob zwischen dem, wie sich nebenbei herausstellte, Patentrechtler und der Lydierin nicht mehr war als nur Kameradschaft. Überdies war er mit Jessir befreundet, obwohl die beiden um der Lydierin Hand einst sozusagen wettgebuhlt hatten. Es entging dem auf ersten Blick recht konservativen Mann auch keineswegs, daß mit Jan ein nächster erschienen war, dem es seinerseits um mehr als bloß neue Freundschaft ging. Doch hatte er auch Lenz … nun jà, „ertragen‟ wäre zuviel gesagt, „respektiert‟ trifft es besser. Aber auch noch nicht ganz. Er hatte ihm sogar finanziell geholfen, zweidreimal schon, als es anders gar nicht mehr ging, und ohne ihn, also seinen juristischen Beistand, hätte Lenz das Grenzhäuschen auf Dauer nicht behalten können. Er war ja illegal eingezogen, hatte das verfallende Gebäudchen sozusagen besetzt. Nur wegen seiner, Pietros, geschickten vorgerichtlichen Verhandlungsführung war es zu dem Wohnrecht gekommen, das bis Lenzens Tod Bestand hatte, erblich natürlich nicht übertragbar. Doch dies nur nebenbei, es kam an diesem Abend selbstverständlich nicht zur Sprache. Statt dessen Michael Wollny und Vincent Peirani, die beide in Jans CAVEZZ ebenso schon gespielt hatten, Stücke aus Tandem und spontane Impovisationen, wie Craig Taborn, aber auch — sowie andere Größen der atonalen Avantgarde, deren intellektuelles, bisweilen restlos verkopftes Spiel auf die harmonischen Bedürfnisse ihrer Hörer so wenig Rücksicht nahm, daß dringend wieder ein Weltmusikabend eingeschoben werden mußte. Pietro mochte beides nicht, war bei Wollny und Peirani, Jarrett, Możdżer und Bartholomey & Bittmann, nämlich derart entschieden, daß sich Jan geradezu gezwungen sah, einerseits den Free Jazz zu verteidigen, sich andererseits aber auf die Seite der Esoteriker ganz ebenso zu stellen, schon um das Kalkül des Kaufmanns zu verteten, der er eben auch war. Jedenfalls diskutierten die beiden zwar zivilisiert, doch hitzig genug, daß es zeitweise den Anschein hatte, die Lydierin sitze gar nicht dabei.
Sie nahm es den Männern nicht übel, fand die Situation sogar amüsant; erleichternd indes auch, weil gelungen genug, um eine sich vielleicht doch schon eingeschlichene amouröse Verwicklung deutlich aufgelockert zu haben. Solange die Spiel blieb, fand sie’s in Ordnung, weil ohne Lehm an den Füßen. Und balancierte die Männer weiterhin aus. Zum Beispiel, indem sie sie nun zu einem Abendessen in ihre neue Wohnung lud. Und dort eben, aber noch im Treppenhaus des Gebäudes, begegnetet Ihr Euch, Jan und Du, zum ersten Mal.
Du bliebst auf der Etage stehen, als sich Eure Blicke trafen. Er blieb ebenso stehen, das halbe Stockwerk tiefer. In der linken Hand trug er einen in Papier eingeschlagenen Blumenstrauß mit roter Schleife daran.
Es traf sich Euer Blicken. Muß ich mehr erzählen?
Schade‟, sagte Jan.
Schade?‟
Ich bin zum Essen eingeladen und schon etwas spät dran. Deshalb werde ich Sie nicht begleiten können.‟
Schade‟, sagtest Du nun auch. „Schade, in der Tat.‟ Und schicktest Dich an, weiter abwärts zu steigen. Wozu Du an ihm vorbeigemußt hättest, der aber stehenblieb, das untere Drittel des Straußes vorsichtig unter den Arm geklemmt, nunmehr sein Smartphone gleichsam gezückt. Du hattest bislang nicht bemerkt, daß er es in der Hand hielt.
Er tippte, mitten und direkt vor den zumal kaum breiten Stufen auf den grauen und beigen Kachelquadraten des Plafonds weiter im Zwischenstock stehend. So daß Du vorbei nicht konntest, hättest ihn denn berühren oder sogar wegdrängen, zumindest Dich an der schulterhohen rostbraunen Kachelung der Flurwände entlangquetschen müssen. Zumal war der dauernd rutschende, bei jeder Tippbewegung raschelnde Blumenstrauß im Weg.Es sieht mir nicht ähnlich‟, sagte Jan. „Was?‟ fragtest Du. „Nicht höflich zu sein. Sowas zu tun. Dabei ist es wahrscheinlich schon die nächste Tür da oben, sehn Sie? Gleich neben Ihnen.‟ „Hier?‟ „Ich glaube, diese Pflanze da …‟ „Pflanze?‟ Aber sie ließ seinem zu dem links neben der Tür, die aussah wie aus Rosenholz, auf einem gestauchten dreibeinigen Holzhockerchen stehenden, fast bereits mannshohen Kletterphilodendron hinaufnickenden Kinn ihr Blicken nicht folgen. Dabei stand sie direkt daneben. Statt dessen sah es Jan unverwandt in die Augen, suchte sie, läßt sich sagen. „… könnte zu ihr passen, meiner neuen Bekanntschaft.‟ Da Du der Lydierin noch nicht begegnet warst, wozu es doch erst draußen vor der Haustür bei unserer wirklichen Begegnung kommen wird, also der mit tatsächlich mir, nicht meinem fiktiven Stellvertreter, war Dein Interesse an Deiner neuen Nachbarin ungefähr so groß wie an dem eingetopften Philodendron. Wie sehr Ihr Euch ähnelt, konntest Du schließlich nicht ahnen, und daß Ihr sehr wahrscheinlich Freundinnen würdet. Nicht nur geahnt, sondern wahrgenommen hatte es aber Jan, und zwar unmnittelbar. Und dennoch: „Und jetzt – sag ich ihr schon ab! Doch wird sie ja nicht allein sein, ihr Freund Pietro will ebenfalls kommen. Wahrscheinlich ist er schon da.‟ „Sie sagen ihr ab?‟ „Wollen Sie sehen?‟ Er nahm die Stufen hinauf und streckte Dir bereits ab der vierten der elf das Smartphone mit der Bildseite zu. „Ich kann nicht einfach so wegbleiben.‟ „Also lesen werd ich das bestimmt nicht. Sein Sie bitte‟, wobei Du mit Deiner Linken seine das Mobilchen haltende Rechte leicht in einer andere Richtung drücktest, so daß Ihr Euch eben doch schon berührtet, „so gut.‟
Er räusperte sich. Und weil jetzt Euch beiden nicht so recht klar war, wie es weitergehen würde, kann immerhin ich, denn so viel Zeit ist, einen Blick auf diese Kurznachricht werfen:

Stehe schon vor der Tür, aber habe im Treppenhaus eine Begegnung gehabt.
Deshalb muß ich absagen. Verzeihen Sie. Doch schauen Sie bitte in zehn Minuten
auf den Hausflur. Ich melde mich wieder. Jan

„Wenn Sie mich bitte kurz vorbeilassen?‟ Du tratest einen Schritt zurück. Er versicherte sich erst auf dem Klingelschild, bückte sich dann und legte den Strauß auf den Fußabtreter. Wieder aufgerichtet und sich zu Dir gedreht, sagte er: „Also lassen Sie uns gehen.‟ Und hakte sich bei Dir ein.

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Briefe nach Triest 62<<<<

 

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