Ein Mekka der Kunst ODER Zurück ins Vorgestern ge-, denn da die Stuttgarter Staatsgalerie nicht nur angeblickt. Als Arbeitsjournal des Sonntags, den 11. Dezember 2022. Burne-Jones‘ Perseus, Sonderborg, Francis Bacon darin.

[Arbeitswohnung, 11.26 Uhr
Mendelssohn, Klavierkonzert No1 g-moll]

So, nach wie vor, stand sie mir vor Augen und – zumal durch die riesige Baustelle davor (die mir, wie auch die wahrhaft monströse, die den Hauptbahnhof umschlingt, seltsam intensiv vermittelte, zuhause in Berlin zu sein) bestätigte knapp ein Jahrzehnt nach Argo, dem dritten, sie abschließenden Band der Anderswelt-Trilogie, sehr recht daran getan zu haben, die → Stuttgarter Staatsgalerie zum Ort des Europäischen Zentralcomputers gemacht zu haben.
Für mich pagan-islamischen Kunstkatholiken ist dieses Museum nicht nur, das aber sehr, ein architektonisches Mekka des bildästhetischen Rauschs. Allein, wie sinnlich-perfekt Burne-Jones‘ Perseuszyklus, in einem fast sakralen Raum-für-sich, ausgeleuchtet ist, benimmt uns, Freundin, den Atem:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich hatte die Serie zuvor noch nie real gesehen, wiewohl dieser Maler zu meinen, in abermals paganem Sinn, Göttern des präraffaelen Olymps gehört. Aber wenige Schritte weiter sogar das noch:

Abermals atemlos. Und doch schon dieser unglaubliche Feininger sowie, eh einer meiner Lieblinge, Max Ernst:

Hergekommen war ich, weil ich am Morgen nach dem Abendtermin meinen, ich schreibe einmal, „Antrittsbesuch“ im → Literaturhaus der Stadt, nun gut, „absolvieren“ wollte, da der Kontakt seit, mit Übernahme der Leitung des Literarischen Colloqiums Berlin, Florian Höllerers Weggang mein Kontakt geradezu restlos abgerissen war und ich die unterdessen längst nicht mehr neue Leiterin des Hauses, Stefanie Stegmann, nicht einmal kannte. Das muß sich, dachte ich, ändern. Und also spazierte ich eben nicht vorbei, sondern hinein. Da war sie aber noch nicht da, sondern komme erst, erfuhr ich, zwischen 12.30 und 14 Uhr. Also nutzte ich die Zeit.
Es ist ein entschiedener Vorteil Stuttgarts, daß die Wege kaum je lang sind; und wie schon „damals“ oft | gefiel mir die Stadt insgesamt wieder sehr, wozu jetzt auch noch diese riesigen Baustellen kamen, die mein metropoles Chaosbedürfnis geradezu liebkosten. Vor allem diese Blicke! in Unter- und auf Überführungen, das gebirgige Umfeld, alles ineinander verschlungen, ganz wie häufig meine Prosa. Weite Repräsentationsflächen wie -gebäude dazu, ein durchaus eben nicht fehlender, sondern mir synkretistisch naher Stadtgestaltungsmanierismus. Freilich, wie es wäre, wohnte ich tatsächlich hier, kann ich nicht sagen. Es würde mir vielleicht ja doch zu klein; andererseits, Neapel ist nicht größer, mein LiebesMezzogiorno. Und am selben Abend, diesem Freitag, dirigierte auch noch → Currentzis in der Liederhalle. Wär ich finanziell momentan nicht so knapp (woran das Tattoo durchaus eine Mitschuld trägt – an dem, zudem, ich ständig weiterentwerfe, vor allem die Handpartie) oder hätte ich eine Privatunterkunft gehabt, ich wäre eine weitere Nacht geblieben, nur um ihn endlich einmal „live“ zu erleben.

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[Pause, Mittagessen.


Vongole auf Spaghetti neri in einem Chili-Weißbohnen-Sugo
Eigenkreation

Mendelsson, Konzert für zwei Klaviere und Orchester]

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14.45 Uhr]
Als ich nun ins Literaturhaus zurückkam — übrigens trotz meiner Begeisterung
verärgert:

Eigentlich war ich zur Staatsgalerie gefahren, um die Blätter → Sonderborgs wiederzusehen, die mich zur Argozeit so sehr beeindruckt haben, daß ich sie niemals vergessen konnte; aber nicht ein einziges hing aus. Nun gut, mit so etwas muß selbst bei Präsenzsammlungen von Zeit zu Zeit gerechnet werden, auch wenn es mir das Herz tatsächlich schwermachte. Zum nur, wie sie selbst sagte, „Achteltrost“ verwies mich eine Mitarbeiterin auf die → Digitalpräsenz. Wirklich ärgerlich aber war, daß die – nicht von der Staatsgalerie betriebene – Buchhandlung des Hauses zwar jede Menge Oskar-Schlemmer-Kitsch und (weil derzeit zu seinem Werk eine → Sonderausstellung kuratiert ist) Kataloge der Agitationsmalereien George Grosz‘ führt, aber nicht nur nicht einen einzigen zum Werk dieses, Sonderborgs, enormen Künstlers, sondern die Mitarbeiterinnen kannten nicht einmal den Namen. Als ich ihn nannte, waren ihre Augen nicht nur fragend, sondern leer. So daß ich mich, hätte ich in der Galerie etwas zu sagen, aber sofort von dieser Buchhandlung trennen, ja den beiden in der Staatsgalerie anwesenden Verkäuferinnen fristlos kündigen würde, für die nämlich zu gelten hat, was wir von jeder Ärztin, jedem Arzt verlangen: daß sie ihr Metier befrouwen und beherrschen.

— als ich also zurückkam, war Frau Dr. Stegmann denn auch da, und es wurde ein mir höchst angenehmes Gespräch, das auch Divergenzen nicht nur aushielt, sondern fruchtbar thematisierte. So hat sich mein Besuch denn mehrfach gelohnt, zumal ich im oberen Foyer eine Freundin wiedertraf, die ebenfalls eine Krebsgeschichte hat. So waren die Gespräche vorpogrammiert; vieles, das wir erlebt haben, ist ähnlich, etwa die Polyneuropathie, die bei ihr aber schmerzhaft verlief, vor allem auch in den Fingern. Was mir Göttinseidank erspart geblieben ist; das bißchen Jucken in den Händen ist nicht der Rede wert, und daß ich hin und wieder wegen einer unkoordinierten Bewegung etwas umkippen lasse, nun jà, auch damit läßt sich’s umgehen. Und sozusagen beschwingt machte ich mich zur Berliner Rückfahrt auf den Weg zum Hauptbahnhof, wo es wieder himmlisch chaotisch zuging, ich mittendrin im Lagerfeld mit gutem Hemd und Krawatte. Bloß, daß ich leider meine braunen Lederhandschuhe irgendwo liegengelassen hatte und vor der Abfahrt eine letzte Pfeife zu rauchen nicht unbedingt angenehm für die sie nicht haltende Hand war; die andre bekam genügend Wärme ja ab.

Gegen 22.30 betrat ich meine Arbeitswohnung wieder und hatte seitdem mit der Nachbereitung dieser kleinen Reise und einigem andren zu tun, das ebenfalls „rein“ administrativ war. Und ist. Ich denke, an die Triestbriefe werde ich morgen auf der Fahrt nach Frankfurtmain wieder kommen; ich reise dort zu Werner Osts Beerdigung an, des Gründers und Leiters von Faustkultur, der leider, ich schrieb es Ihnen schon, verstorben ist

Ihr, ersehnte Freundin,
ANH
[15.37 UHr
Mendelsson, Konzert für zwei Klaviere und Orchester E-Dur]
P.S.:
À propos: Dauernd vernachlässige ich Felix Mendelsson-Bartholdy und achte ihn gering, doch höre ich ihn wieder, bin ich fürbaß erstaunt, wie gut er ist …

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