[FLX10 nach Berlin Gesundbrunnen
9.20 Uhr]
Das war vielleicht eine Herfahrt gestern! Ich stand schon zum Aufbruch gut verpackt in der Arbeitswohnungstür, als ein Alarm sich fiepen ließ: Verspätung 120 Minuten. Ich nahm’s gelassen, ja irgendwie war es mir sogar recht, weil ich nun mein zwar schon verpacktes Müsli essen konnte, auch wenn ich’s wieder auspacken mußte, und Zeit hatte, den Eiweißdrink zu bereiten. Für die Trauerfeier, Beerdigung um 14.30 Uhr würde es perfekt reichen.
So getan und geschehen, statt um halb neun brach ich also um halb elf auf und blieb recht wohlgemut. Nur daß am Südbahnhof der Flixtrain auch mit den zwei Stunden nicht einrollte, erstmal wurden es drei. Nun gut, eisig war’s, aber ich rauchte meine Pfeife und amüsierte mich ein wenig über den Unmut vieler anderer Reisenden-in-unterdessen-schlechter-Hoffnung. „Was wollt ihr? Das ist doch imgrunde wunderbar, weil es uns zeigt, daß sich das Leben nicht regeln, nicht alles vorherbestimmen läßt und wir also erfahren, daß wie noch lange keine Replikanten sind.“ — So empfand und empfind‘ ich tatsächlich. Nur daß aus den nunmehr drei Stunden bald viere wurden, und als nach viereinhalb die knarzenden Lautsprecher von „unbestimmter Zeit“ zu plärren begannen und weil gerade ein regulärer ICE der DB am Nebengleis hielt, pfiff ich auf die Mehrkosten, also meine Kreditkarte pfiff (65 Euro immerhin, mit Bahncard), stieg da ein und buchte noch im Bistro das Ticket per App. Dann war auch ein Sitzplatz schnell gefunden. Und Harry Oberländer anrufen, den ich bereits morgens über die harte Verspätung informiert hatte und der mich auf dem Friedhof gegebenenfalls (was leider der Fall nun geworden) entschuldigen sollte und es auch tun wollte. „Wo geht Ihr denn danach hin?“ „Galerie Heusenstamm, Braubachstraße.“ Und jetzt, derart außer der Zeit, war klar: „Komm dann direkt dort hin.“
Fünf Minuten Verspätung fuhr nun auch dieser Zug ein, aber fünf Minuten? wen, Göttin, schert’s? – Frankfurtmain Hauptbahnhof zehn vor vier, schnell zu U4 oder 5, die auch schon dastand, nämlich die 4, zwei Stationen, dann roch es süß und warm schon nach Mandeln, „gebrannten“; der Römer ein Weihnachtsmarkttouri(e)prospekt. Weg da, nur weg, Francfort at it’s bad’st! Warn auch nur paar Schritte.
Gut, oder schlecht, kondoliert. Die Bekannten und Freunde begrüßt, umarmt, sonstwie geherzt. Alissa Walser fiel mir in den Arm, Sascha Anderson, mit dem ich mich bestens verstehe, umarmte mich oder ich ihn, wer wen zuerst, kann ich nicht sagen, is‘ ja auch wurscht. Dann mit Oberländer geplaudert — und aber das wichtigste: Michele Sciurba sagte meinem Vergleichsvorschlag wegen des → Gaphic-Novel-Vorschusses zu; bereits habe er mir auf die Mailbox gesprochen (auf der ich aber nichts fand, allerdings nie etwas finde). Jedenfalls ist → diese Befürchtung nun gegenstandslos. Sofort mit Alexander Pavlenko gesprochen, der selbstverständlich auch da war; unser erstes Arbeitsgespräch werden wir in der kommenden Woche per Videoschaltung führen. Ich bin mir noch nicht sicher, wie dieses Projekt insgesamt zu formen ist: Reagiere ich textlich auf Pavlenkos Bilder (schmiege meinen logischerweise immer nur sehr kurzen Text ihnen an), halten wir es umgekehrt oder „mischen“ wir diese Verfahren? Ich bin, so oder so, irre gespannt und voll Gestaltungslust.
Nach etwa zwei Stunden verließ ich die Zusammenkunft, traf erst Phyllis Kiehl auf ein feines Gespräch und danach Do bei Da Pasquale. Phyllis, ohnedies in Sachsenhausen mit einer ihr sehr nahen Freundin verabredet, fuhr mich dort hin. Was ich gesprochen habe mit den beiden, ist, o Freundin, ein privat. Es würde Sie außerdem ein bißchen, fürcht‘ ich, eifersüchtig machen.
Doch nun zu Gerd-Peter Eigner, seinem Blauen Koffer und der → Veranstaltung heute abend im Brechthaus, ich hoffe, Sie kommen dort hin und auch viele unserer Leserinnen und Leser ( — denn ja!: als Ersehnte angesprochen, sind Sie Autorin-selbst, da ohne Sie kein Brief entstünde, der diese Arbeitsjournale immer doch auch sind). Wobei die Veranstaltung sogar→ gestreamt werden wird – was ich gerne aber nicht schreibe. Denn möglicherweise bleiben Sie allzu bequem dann zuhaus, was allzu schade wäre, weil wir, mein Arco-Verleger Christoph Haacker, Hans-Christoph Buch, auf den ich mich ziemlich freue, und sowieso ich | jeden allzu trocknen Akademismus im Geiste Eigners aufmischen werden. So etwas braucht Publikum, und zwar eines, das atmet. In jedem Fall hat Haacker schon einigen Raum freigeschaufelt, der Sie Eigner quasi selbst hören lassen wird. Sei’n Sie gewiß, ein Erlebnis. Und derart schön das Buch geworden! Hätt ich darin nicht das Nachwort geschrieben, ich würd es mit Lust rezensieren. Aus diesem, dem Nachwort, ein Schmankerle hier:
Bis nämlich diese physisch überaus harten Einschränkungen sein Leben zu bestimmen begannen, saß er meist nicht nur wochenlang, nein über Monate, ja manchmal deutlich mehr als ein Jahr “einfach” denkend da – vor allem in seiner italienischen Zeit auf der selbsterrichteten Terrasse einer steinernen Weinbauernhütte mit Blick vom Berg hinab in das Tal. Saß also da und schwieg. Es durfte ihn dann niemand auch nur ansprechen, jedenfalls nicht bis zum Abend, wenn er seinen täglichen “Cesarese” entkorkte, einen süß moussierenden, für die Nachbargemeinden Olevano Romano und Genazzano typischen Wein in bauchiger Damigiana. – Wagte dennoch jemand, das Wort an ihn zu richten, gar eines, das den Alltag meinte, dann brach er, der Vulkan in ihm, magmaschleudernd aus. Die folgenden, nicht selten maßlosen Streits warfen ihn um Wochen in seiner Arbeit zurück. Doch schließlich, war das zur geistigen Versenkung erforderte Sabbatical tatsächlich herum, setzte er sich an seine kleine Reiseschreibmaschine – eine nötig werdende Umstellung auf den Laptop machte ihm später extrem zu schaffen –, setzte sich also hin und tippte einen kompletten 500-Seiten-Roman Satz für Satz in einem Rutsch herunter. Und aber was für Sätze! Ein Lektorat war so gut wie nicht mehr erfordert, selbst wenn die Hypotaxe eines einzigen Satzes sich über anderthalb Seiten erstreckte.
Geben Sie’s zu, jetzt m ü s s e n Sie kommen, anders könn‘ Sie gar nicht mehr. So daß wir uns dort sehen werden.
Ihr
ANH
der nicht nur durch den hellsten Winter fährt,
sondern glücklich ist, daß seine Girard-Perregaux sein Handgelenk wieder umschmeichelt und geheimnisvoll glimmt. Einen Riesendank an meinen Wiener Uhrmacher Peter Neidhart — ein Künstler auch er, nämlich seines Handwerks — sowie meinem Verleger, der sie mir vorgestern abend aus Wien gleich mitgebracht hat. Ich war, weil ich drum wußte, zum Hauptbahnhof g e s t ü r m t.
Was für ein lebendiges Hin – und Hergereise…
Für heute Abend wünsche ich Ihnen ein ebenso spannend.lebendiges Zusammentreffen.
Herzliche Grüße…RIvS.