[Arbeitswohnung, 8.17 Uhr
Gesualdo, Madrigali, Libro II]
Jetzt geht es fast rasend voran. Muß es auch. Am 29. sollen die Fahnen abgegeben sein; zugleich stehen sowohl Elvira M. Gross als auch ich selbst unter enormem Zeitdruck anderer Arbeiten wegen, die alle auf Termin gebürstet sind (was teils mit gebuchten Druckzeiten zusammenhängt; wegen der problematischen Lieferketten muß auf Punkt gearbeitet werden, sollen die Bücher rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse vorliegen; bei mir wiederum ist es zudem ein Hochzeitstermin, für den die Rede stehen muß, sowie ein kleiner Auftrag des Literaturhauses Berlin zu dessen – sozusagen – Jubiläum, nämlich dem der seit fünf Jahren neuen Leitung). Also, ich bekomme von Elfenbein jeweils kapitelweise Fahnentranchen – die letzte, des Überkapitels VII, steht noch aus, erwarte ich aber heute -, sehe sie durch, füge Korrekturen und Änderungen ein; danach gehen sie jeweils an Elvira, die ihrerseits korrigiert, Änderungen vorschlägt, manchmal auch meine Änderungen verwirft oder problematisiert; danach gehen diese Fahnen je an mich wieder zurück. Ich schaue nunmehr Elviras Anmerkungen durch, nehme sie an – wo aber nicht, schreibe ich eine kleine, sagen wir, Entgegnung und markiere die jeweiligen Stellen so, daß wir sie, um sie dann mündlich durchzusprechen, schnell finden. Daß solch ein, eben weil es sehr genau ist, „Verfahren“ zeitaufwendig ist, muß ich Ihnen, Freundin, nicht schreiben. Und wenn diese Fahnenarbeit getan sein wird, muß der Verlag alles dann einbauen, was ebenfalls nicht rasch von der Hand geht.
Wie auch immer, da wir – Elvira und ich – am Dienstagabend in der Villa Concordia Bamberg wieder eine gemeinsame Veranstaltung haben werden – Vorstellung mit Rezitation des Béart-Gedichtzyklus‚ – und morgens drauf noch etwas Zeit vor der Rückfahrt sein wird, werden wir die Fahnen wahrscheinlich dort in Bamberg durchsprechen, jedenfalls soweit wir sie von unserer Seite bearbeitet haben. Dabei fände ich eigentlich etwas Luft für uns beide schöner; es ist ja doch, wenn wir aufeinandertreffen, immer ein kleines seelisches Fest. Jedenfalls für mich. Es tut mir nicht gut, es zu pragmatisieren. Andererseits, der Zeitdruck ist objektiv.
Ja, André Heller. Es gibt eine Stelle in der Verwirrung, wo sein Einfluß – damals, als ich jung war; es ist aber ja auch ein junges Buch – geradezu augenscheinlich wird, wenn auch nur, vermute ich, für mich selbst. Wahrscheinlich würde kein Germanist je darauf kommen – was eigentlich der Grund dafür ist, diese Stelle jetzt noch eingefügt zu haben; ich will über meine Quellen „einfach“ nicht hinwegschreiben, sie nicht verstecken, also auch sie, ecco!, zugeben. Denn erst, als ich sie jetzt wiederlas, diese Stelle,
Ich wollte mich zugeben, endlich zugeben. Aber was heißt denn »zugeben«, hier? Sagen will ich’s, sagen!
Verwirrung des Gemüths, Neufassung, Buchseite (Korrekturfahnen) 244,
wurde mir unversehens klar, woher dieser Satz, Ich will mich zugeben, stammte, ja hatte sofort die dialektale Einfärbung im Ohr, in der er gesprochen ward, und memorierte, ohne zu stocken, geradezu den ganzen Text, auf den sich meine Buchstelle bezog … doch das nicht allein! Denn vorgestern, nach über viereinhalb Jahrzehnten, wurde mir schlagartig bewußt, wie tiefgehend mich André Hellers, denn die seine war es, Einlassung für mein ganzes späteres Leben geprägt hat, insbesondere meinen Umgang mit dem Verhältnis von privat und öffentlich, ja privat und intim. Und heute, an diesem Januarsonntag meine ich sogar, bezeugen zu müssen, daß es ohne Hellers bekenntnishafte Aussage von 1974 (die ich von der ein Jahr später erschienenen live-Doppel-LP Bei lebendigem Leib kenne) weder die Arbeitsjournale noch gar meine Tagebuchveröffentlichungen in Der Dschungel gegeben hätte.
An der Verwirrung begann ich im Juli 1981 zu schreiben, quasi unmittelbar, nachdem ich von Bremen nach Franfurtmain gezogen war; Bremen spielt fast naturgemäß noch eine große Rolle in dem Buch[1]In Bremen schrieb ich auch meinen ersten vojn mir selbst akzeptierten Roman, Die Erschießung des Ministers, der als Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger aber erst zweiter, nämlich … Continue reading, das auch den Umzug – selbstverständlich komplett „umpoetisiert“ – thematisiert; in Bremen hatte ich, Admiralstraße 118, eine Fotografie des geschminkt maskierten Hellers über meinem Schreibtisch hängen, demselben übrigens, an dem ich heute noch arbeite – … Moment, ich muß irgendwo noch ein Foto davon haben … – Da ist es:
Ich hörte diese beiden Platten immer und immer wieder – für meinen Umgang damals nicht zu verstehen, sei es den Freundeskreis um Andreas Werda, der, → wie erzählt, Joni Mitchell, bevorzugte und dem Heller zu narzisstisch war, sei es gar den Kreis um die Pro Musica Nova, der ohnedies alles ablehnte, was nach anderen als den seriellen Regeln, bzw. nachschönbergschen gebaut war (ich war ihm aber sehr verbunden; bis heute gilt mein persönlicher Dank Karlheinz Stockkhausen, Hans Otte, Wolf Vostell, die mein ästhetisches Denken ebenfalls alle beeinflußt haben); sei es den politischen Anhängern Waders, Kittners, Degenhardts – bereits Reinhard Mey galt denen als verdächtig. Heller aber, am Ende der ersten Platte, spricht:
Ich bin Angst und Entsetzens gepflastert, und ich möchte mich nicht schämen, es zuzugeben. Ich will mich zugeben. Ich fordere Sie auf, sofern ich irgendetwas tue, wenn Sie wissen wollen, was das für eine Funktion hat, so ein Abend, an dem Sie mir das Kostbarste geben, was Sie haben, nämlich Ihre Zeit, an dem i c h Ihnen das Kostbarste gebe, was ich habe, nämlich m e i n e Zeit, ich fordere Sie auf, sich mit der Verwundbarkeit und dem Unbehagen zu solidarisieren. Die Zeit ist zu ernst, um sie mit Las-Vegas-haftem Callgirl-Lächeln totzublödeln. Es geht uns, ja, es geht uns an den Kragen, und da ist es egal, ob der sauber ist oder nicht.
André Heller, live 1974
Wobei er noch anfügt – wie ich selbst es seither dem Literaturbetrieb immer wieder gesagt habe, wahrscheinlich habe ich auch das daher -, da könnten ihn die Gesetze des Showbusiness am Arsch lecken – Ausdruck einer Verachtung, die ihn fast unmittelbar (vorher aber müssen wir die Platte wechseln, um weiter mit der Seite 3 zu hören) … die ihn zu Anton Kuhs von Heller so genanntem „Hamletmonolog der Wiener“ führt. Der freilich spielt in der Verwirrung keine Rolle mehr. Trotzdem hinterließ auch Wien deutliche Spuren, wenn auch erst im Folgeroman, Wolpertinger oder Das Blau, in dem Dietrich Daniello mit der, läßt sich sagen, Stimme Qualtingers spricht, den ich auch erst über Heller kennengelernt habe, nämlich aufgrund seiner, mit diesem, Einspielung wirklich allerbösester Wienerlieder; meine Lautschreibung lehnte sich allerdings an H.C.Artmanns Dialektgedichte an, Med ana schwoazzn dintn (1958), was sich logischerweise nicht geändert hat.
Doch noch einmal zu Heller zurück, fand ich online, als ich mich jetzt auf die Suche begab, eine so sehr späte wie → großartige Hommage Michael Herls in der Frankfurter Rundschau. Daß Heller zeit seines Lebens, ich kann es nicht anders sagen, angegiftet wurde, liegt eigentlich, leider, auf der Hand. Es schützte ihn, daß er von Haus aus Geld hatte (und hat) und auch einigen, ebenfalls Einkünfte garantierenden Erfolg, die das öffentlich verspritzte Gift da erst richtig spritzen ließ. Und es ist ein Treppenwitz, daß ihm heute „Betriebsgängigkeit“ vorgeworfen wird. Nicht anders hat man mir, als ich an der Börse gewesen, nachgesagt, daß ich mir meine Widerständigkeit nur deshalb „leisten könne“, weil ich „ein Vermögen gemacht“ hätte. Wir können uns drehen, wie wir wollen, sind wir dem Betrieb nicht glatt genug, frißt uns die Katze. Nur, liebste Freundin, verdirbt sie sich an uns den Magen. Sie weiß es bloß noch nicht.
Ihr
ANH, 12.21 Uhr
P.S.:
Ich habe das → Pregabalin abgesetzt. Es traten unangenehme Nebenwirkungen auf, schwer opiatisierte Zustände nach dem Mittagsschlaf etwa, die selbst nach einer halben Stunde nicht vergingen, häufig schwere Müdigkeitsanfälle namentlich nach dem Essen und vor allem, für mich, weil ästhetisch unangenehm, das schlimmste: extrem geschwollene Füße. Der Neurologe zwar behauptete, es gebe da keinen Zusammenhang, aber ich vertraute meinem Instinkt und schlich das Zeug von mir aus aus. Tja, siehe da: Die Nebenwirkungen sind vorbei und meine Füße wieder schlank. Da lief ich als allererstes zur Pedicure (einer anderen, da meine langjährige Fußpflegerin leider, nach einem schweren Unfall, aufgeben mußte); und weil Gepflegtsein halt Gepflegtsein heißt, schloß ich die Manicure an – was wunderbar → zu dem wachsenden Tattoo paßt. Ja, was störn mich da die Ameisen der Polyneuropathie? Lieber diese Belästigung als keine Eleganz. Doch immerhin hat mir das Medikament soviel Gewichtszunahme beschert, daß ich seit drei Tagen wieder, wenn auch erst – per TRX-Band – noch vorsichtig, wieder Krafttraining vollführe. Und habe Muskelkater heute — den ersten seit zweidreiviertel Jahren. Nun werd ich wieder männlich Mensch. Ach Freundin, tut das gut!
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References
↑1 | In Bremen schrieb ich auch meinen ersten vojn mir selbst akzeptierten Roman, Die Erschießung des Ministers, der als Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger aber erst zweiter, nämlich 1986, erschien. |
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