Es wächst (ergo: lebt). Ein Weinstamm im Arbeitsjournal des Donnerstags, den 4. Mai 2023, an dem mein mit exakt vierzig gestorbener Bruder sechsundsechzig Jahre alt geworden wäre. (Dazu das aufgeschobene Buch: Briefe nach Triest, 76.)

[Arbeitswohnung, 7.14 Uhr]

Es hat selbstverständlich Gründe, daß ich mal wieder lange schwieg, vor allem auch „persönlich“. Um es kurz zu machen: Ich habe das für diesen Herbst geplante Erscheinen des Triestbriefromans um ein Jahr verschoben. Was geschah, mag ich detailliert nicht erzählen; tatsächlich aber bin ich über den Aufschub unterdessen froh, weil mir eh einige Revisionen durch den Kopf gegangen waren, die ich jetzt doch noch einarbeiten kann. Als ich nach den → Triestrecherchen die eigentliche Arbeit wieder aufnahm, hatte ich ohnedies gedacht, ich bräuchte noch ein Jahr. Doch mein Verleger drängte ein wenig, und zwar, weil es gut gewesen wäre, nach Erscheinen des → text+kritik-Bandes, sozusagen nachzulegen. Deshalb dann ab Januar dieser dreimonatige arbeitsrauschhafte Endspurt von bis zu fünfzehn Stunden täglichen Schreibens, der mir für anderes kaum eine Zeit ließ, erst recht nicht für „vernünftige“ Arbeitsjournale. Dann schüttete sich von gänzlich unvermuteter Seite ein riesiges nicht Füll-, sondern Auskipphorn über mich aus — Sie wissen ja, Freundin, daß ich meine Texte immer wieder anderen zu lesen gebe, um Reaktionen auszutesten; nun nahm mir selbst ein eng befreundeter Kollege manches übel, auf das ich hören sollte und will; nicht aber er war es, der von „Kitsch“, ziemlich irrsinnigerweise sogar von Pornographie, geschweige denn – restlos absurd, ja bizarr – von stilistischen Holprigkeiten, mangelnder Personenführung, gar von „mystizistischem Schwulst“ sprach. Das kam von ganz woanders her und erinnert enorm an eines gewissen Markus Gassers 2010 in der FAZ publizierten →  extrem prüden Beckmessereien gegen Nabokovs Ada-Roman mit denen wir es heutzutage, dreizehn Jahre später, allerdings noch viel extremer zu tun haben, und leider in der Dichtung auch. Da ich aber ohnedies, siehe oben, noch Revisionen einpflegen wollte (und will), haben Arco und ich den nunmehr hiermit verkündeten Entschluß gefaßt.
Seltsam, wie befreiend er jetzt wirkt, obwohl er mit sich auch jedes weitere Projekt nach hinten schiebt, etwa die → Sapphogedichte und die kleine Novelle, die ich für Elfenbein schreiben will. Erst einmal ist sowieso eine nächte Hochzeitsrede zu verfassen, auf die ich mich gerade dieses Paares wegen sehr, sehr freue; sie wird auch finanziell ein wenig Erleichterung bringen – dringend, denn in der Hochphase der Triestarbeit, fast gegen ihr bisheriges Ende, fiel ich auf einen Telefonbetrug herein. „Papa, mein Handy ist kaputt, ich komme nicht an mein Konto.“ Da war mein Sohn – dachte ich – grade noch in Venedig. Was war ihm da passiert? Ich, auf dem Romantrip, kam nicht in Klarheit, was nicht den Roman betraf, war auch schon müde, es war nach acht; zugleich war geriet ich unvermittelt in Panik. „Kannst Du mir schnell 2000 Euro überweisen? Bitte auf folgendes Konto.“ Was ich denn tat. Eine halbe Stunde später steht mein Sohn in der Tür.

Wir dann gleich zur Polizei. Aber das Geld dürfte weg sein, nein, ist sicherlich weg.
Interessant aber, was mich später beschäftigte — eine tatsächliche schwere Kränkung. Nicht der Verlust des Geldes, mit sowas kommt man irgendwie klar. Aber diese Blasphemie, mir meine Vaterschaft zu schänden. Sie ist mir geradezu heilig. Und dann rotzt jemand auf sie drauf, von keinem andren Motiv als profaner Geldgier getrieben. Ich mag Ihnen, Freundin, gar nicht erzählen, was für Rachegedanken in mir tobten.
Lassen wir’s ruhen. Wenden wir uns, Herbst & Deters, der Zukunft wieder zu.

Irgendetwas wenn zwar nicht „fertig“ bekommen, so doch weiter vorantreiben indes m u ß t e ich bei alledem. Und da es immer mehr danach aussieht, als spränge der frühe Sommer langsam über die nach wie vor vom Winter, der nicht loslassen kann, aufgepflanzten Hürden, und man ein frisches Tattoo auf keinen Fall der Sonne aussetzen soll, ich aber endlich wieder kurzärmlige Hemden tragen möchte, nahm ich — nach dem grad Erzählten ein  freilich finanzieller Irrsinn — die → Arbeit an dem tätowierten Rizom wieder auf, insofern sich, wie ich Ihnen schon erzählte, die Struktur vieler meiner Texte nunmehr auf meinen Körper überträgt, eben nicht nur als weitere → Verarbeitung des Krebses, sondern sehr bewußt auch als eine poetische, sagen wir, „Aktion“, deren wesentliches Merkmal es ist, daß sie sich weiterentwickelt und fertig sein erst soll, wenn ich sterben werde. Wozu ich noch überhaupt keine Zeit habe (Lust sowieso nicht); es ist zu vieles noch zu schreiben.
Jedenfalls hatte ich im Umfeld meiner, Ende Januar, Bamberger → Béart-Lesung neben dem Hotel meiner Lektorin ein riesiges Weingewächs entdeckt, vor dem ich, wie ich → dort schon erzählte, einige Zeit fast fassungslos stand, weil das Rankendickicht genau diese rizomartige Struktur zeigte, in voller Schönheit ihrer Komplexität, auf die es mir poetisch so ankommt. Und da schon hatte ich die Idee, das sich mir bietende, ja darbietende Bild in die Körperarbeit zu integrieren, nahm also einige Fotos auf und gestaltete, wieder daheim, die ersten Entwürfe der nächsten Tattooerweiterung. Und weil ich mich nach Abgabe des Romans sozusagen belohnen wollte, setzte ich den nächsten Termin für Anfang Mai an. Nun ist zwar die Belohnung gewissermaßen hinfällig geworden, aber ich wollte nicht auch noch einen Dominoeffekt „erleiden“ müssen. Deshalb ging es gestern denn los. Wobei, sich an dieser Stelle tätowieren zu lassen, s c h o n etwas für, was Schmerzen anbelangt, Fortgeschrittene ist. Zweidreimal zuckte ich denn auch, war aber viel zu fasziniert von Elenas Technik, ohne, daß ich sie wirklich verstand, eine Plastizität zu erreichen, die mich schließlich fassungslos machte — nicht nur aber mich selbst, sondern ihre Kolleginnen und Kollegen genauso, die immer wieder herkamen, um staunend zuzuschauen. „Amazing!“ gehört noch zu den bescheidensten Ausrufen, die halb geflüstert fast umso lauter wurden. Ein spanischer Künstler gab sogar seiner Bewunderung Ausdruck, worauf Elena, fast ohne aufzusehen, ein leises „Thank you“ sprach, um hochkonzentriert weiterzustechen (allerdings summt sie manchmal dabei, irgendeinen Song, der ihr nah ist). Ich meinerseits war komplett frappiert, wie fast in 3D das Ergebnis dann aussah:

Sie müssen sich, Freundin, jetzt „nur“ die Rötungen und leichte Schwellung wegdenken, die von der permanenten Reizung der Haut herrühren (die „Sitzung“ dauerte an die fünfeinhalb Stunden) und sich nach Heilung der hier auch sehr flächigen Wunde verlieren werden. Ebenso geben die Bilder die Farbigkeit des Motivs nur ungenügend wieder. Momentan, unter den transparenten Schutzpflastern, ist davon gar nichts mehr zu sehen, zum einen, weil diesmal wirklich einiges Blut mit im Spiel war, zum anderen, weil aus den feinen Ritzstellen übeschüssige Farbe austritt, die sich über das Motiv verschmiert und sich erst in zweidrei Tagen, wenn ich die Pflaster entfernt haben werde, abwaschen läßt.

Dazu mein Sohn, dem ich sofort die Fotos schickte:

Nun also ist Geduld angesagt, frühestens übermorgen, wahrscheinlich aber erst am Sonntag kommen die Pflaster ab. Da ich auch die Hand habe nachstechen lassen, also die Finger, trage ich da allerdings, weil die Plaster dort nicht halten, einen schwarzen Latexhandschuh, den ich bis zum Sonntag täglich wechsle; darunter jeweils die Wunden mehrfach desinfizierend eingesprayt. Wobei ich eigentlich hatte noch eine weitere – indes nur fortführende – Ergänzung vornehmen lassen wollen, aber nach den vielen Stunden war Elena zu sichtlich erschöpft; insgesamt hat sie nur zweimal eine drei-Minuten-Zigarettenpause gemacht.

Mit großer Zuversicht und einigem Stolz spazierte ich gegen 19 Uhr in immer noch vollstem Sonnenschein heim – und brachte abends den nächsten Nabokov-lesen-Text zuende, den Sie, falls Sie, Freundin, mögen, morgen werden lesen können. Da dann gehe ich auch auf den Grasser noch einmal ein.

 

Ihr
ANH
11.15 Uhr, nach mal wieder Hans-Werner Henzes Ode an den Westwind bei nunmehr Saint-Saëns‘ sonnenhellem ersten Klavierkonzert D-Dur

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