Nach Grazon in Estotiland. Geschrieben als rapsgelbes Arbeitsjournal am Mittwoch, den 17. Mai 2023.

 

[ICE 1001, 11.15 Uhr]

So geht es nun also zu „meinem‟ zweiten Hochzeitspaar dieses Jahres, einem, das ich wirklich wunderbar finde – aus erzählerischer Sicht nämlich auch: Sie haben mir schon jetzt ein geradezu märchenhaftes Material geschenkt, um meine im Juli zu haltende Rede zu schreiben. Ein Treffen gab es ja Anfang Dezember schon, doch unversehens mußte die junge Dame einer allerdings höchst schmerzhaften Kleinigkeit wegen ins Krankenhaus. So sprach ich mit dem werdenden Bräutigam allein, fand und finde es aber wichtig, auch seine Partnerin sprechen, lachen, sich bewegen zu sehen, vor allem die Moduation ihres Tonfalls zu hören. Dergleichen geht in meine Reden ja ein. Und sie ihrerseits wollte mich sehen, auch klar, wenn Sie, o Freundin, vor Augen sich führen, daß schließlich ich es sein werde, die beiden zu Frau und Mann zu erklären. Abgesehen von der Standesbeamtin, dem Standesbeamten. Nur ist deren Part rein pragmatisch-formal; die sind vom Finanzamt beauftragt.
Wie auch immer, in München werde ich umsteigen, und da mein jetziger Zug – angeblich dem Klischee einer Signalstörung halber – bereits an Südkreuz zehn Minuten Verspätung hatte, könnte die in Deutschland traditionelle und mit weitrer Strecke möglicher- oder sogar exponentiell immer traditioneller werdende Gewohnheit schließlich Wahrheit werden, daß mein Freccio („Rotpfeil“, Freccia rossa) der → estotiländische Railjet, verpaßt wird und ich dann jede Menge Weißwürste in mich reinstopfen muß, um die Wartezeit auf den nächsten zu füllen. Was wiederum schade wegen des sicherlich am Abend geplanten gemeinsamen Essens wäre, das ich dann nicht mehr hineinbekäme in mich.
Aber wirklich unruhig bin ich nicht, sondern freue mich, jetzt schon mal → Ada zuendelesen zu können; es sind nur noch neununddreißig Seiten, nach denen ich gleich meine dann wohl letzte, in jedem Fall vorletzte Betrachtung dieses Buches anfangen zu schreiben kann. Zugreisen sind Arbeitszeit. (Sehr sinnvoll, übrigens, wieder, daß ich einen Tischplatz reserviert habe; früher tat ich sowas nie. Die Waggons sind proppevoll, auf den Stufen in den Türen sitzen viele, viele Tramps.)

Und damit habe ich mich gestern den gesamten Tag beschäftigt, nachdem Christophoro Arco nun mehr mehrmals darum gebeten hat, ich möge → die bisherigen Nabokov-Texte doch bitte einmal für ihn zusammenstellen, weil er gerne, wenn sie ihm gefielen, daraus ein Buch machen würde – eine Vorstellung selbstverständlich, die mir einige Freude bereitet:

 

 

 

Ganz einfach wird eine solche Edition aber nicht; auch poetische Weblogtexte eignen sich meist nicht eins zu eins für Bücher, sondern müssen transformiert – umformuliert – werden, teils sogar einschneidend geändert. Andererseits habe ich bei meiner gestrigen Arbeit eine deutliche Freude an den Mischformen gespürt, und zwar gerade da, wo sich meine Analysen, Einschätzungen usw. zu Nabokovs Romanen sich mit meinen Tagesjournalen m i s c h e n, unversehens privatestes Leben sich herausschält oder so tut, als wäre dem so, oder aus ihm heraus sich der Nabokov schält. Besonders meine so geliebte Ansprache – „o Freundin‟, Freundin, ‟liebste Freundin‟ – gefällt mir außerordentlich – und eben auch in einem Buch. Selbstverständlich schließt dies (meine, bezüglich Nabokov oder insgesamt interpretativen) Irrtümer ein, auch möglicherweise völlige Fehlsichten — wozu mir einfällt, daß ich unbedingt noch auf → Hendrik Jacksons Einwände antworten muß. Ich sagte es ihm für den folgenden Tag zu, war da aber bereits wieder tief in dem nächsten Text zu Ada.

Übrigens ist „Grazon“ein Fake; ich reise nach Estotiland: So gelb ist heut der Raps.

 

Ihr ANH

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