[Arbeitswohnung, 8.45 Uhr]
Was mich gestern abend erreichte, ist wunderbar:
Lepres erste Übersetzung des neunzehnten Béartgedichts ins Italienische. Das kommt bestens zu einem Zeitpunkt, da einige meiner lyrischen Texte nunmehr in → lyrikline aufgenommen werden sollen; einsprechen werde ich voraussichtlich am 14. Juni im Studio des Hauses für Poesie, gleich bei mir um die Ecke, sozusagen (Kulturbrauerei). Auf den dazugehörigen Sites sind oft auch Übersetzungen, soweit es sie gibt, zu lesen, ein Umstand, der meine Auswahl der zehn Gedichte deutlich mitbestimmt, die ich mir zum Vortrag aussuchen darf. Und da Lepre ANH schon einmal übersetzt hat, nämlich die vierte → Bamberger Elegie, von der es aber auch gleich zwei französische – miteinander konkurrierende – Übersetzungen gibt, werde ich auch diese wählen. Alle anderen sind kurz, jedenfalls kürzer. Wobei mir nicht ganz klar ist, ob der Toningenieur weiß, was auf ihn zukommt; zwar hab ich’s ihm gemailt, doch kam bislang keine Anwort.
Nun jà, ich mach mich nicht verrückt, sondern bereite mich auf den letzten Beitrag zu → Ada vor, habe mich allerdings, sagen wir, „ablenken“ lassen, weil ich am Sonnabendabend auf einer Literatur-Quickie-Lesung mit Ulrike Schrimpf und Alexander Rösler war. Letztrer überraschte mich, auf Schrimpf war ich vorbereitet gewesen, weil ich in ihr Buch schon hineingeschaut hatte. Gut gebaut, war mein Eindruck (ist es noch); zeitgemäß, virbrierend seltsame Dialoge – was an ihrem Grundstein liegt, der zumeist bespielt wird: Chats, insonderheit der Partnerfindung, und der von Partnerinnen.
Nun ist meine eigene – Sie wissen, Freundin, intensive – Zeit der Chats, namentlich erotischer, vorbei, und mit dem Abschluß solch einer Lebensphase wechselt das Interesse. [1]Selbstverständlich liegt hier immer noch mein ebenfalls auf Chats beruhender Roman „Die Liebe in den Zeiten des Internets“ herum und wird vielleicht eines Tages fertiggestellt werden, w … Continue reading — Kurz, Schrimpfs Buch konnte mich, aus eben sprachlichen Gründen und weil ich aus dem Thema herausgewachsen bin, nicht packen. Ich will es dennoch empfehlen, weil meine Aussage nichts ist, das irgend einem „Urteil“ gleichkäme. Fußballspiele können, wie nun ich gelernt hab, brillant sein, ja ich beginne, Sympathie für sie zu fühlen (was aber nur → an Napoli liegt); sie gehen mich aber nichts an — und Schrimpfs Ghost[2]Der Titel zielt aufs → Ghosting.buch, eben, nichts m e h r.
Das gilt eigentlich für ein anderes auch, auf das ich aber gleich | so dringend zu sprechen kommen werde, weil ich über es eine detaillierte Rezension scheiben will (eigentlich längst schon wollte). Ich möchte nur vorher noch auf Alexander Röslers → „Der Mann hier unten“ zu sprechen kommen, ein Buch, das mich tatsächlich in Bann nahm, als Rösler daraus vorlas. Hier war es aber der Plot, waren es die ineinander verwobenen, auf einen gemeinsamen Knoten zulaufenden Erzählfäden, was mich überzeugte. Am nächsten Tag zog ich das Buch aus meinen Eingangsstapeln heraus, blätterte etwas drin rum – und ja, ich wollte es lesen. Was ich gestern tat, teils draußen in der herrlichsten Sonne.
Tatsächlich ist es („tat“) ein Buch für einen Tag; Sie brauchen paar Stunden, dann haben Sie’s durch. Doch auch, wenn Rösler manch überraschende, auch berührende Formulierung gelingt —
Er ist in Eile, aber nicht gehetzt (8) – ‚Trockene Maculadengeneration‘ hat der Augenarzt gesagt. Und Gott sieht zu. (11) – Er wollte das Gesicht machen, das zu der Aussage paßte, aber er fand es nicht (11) – Sie war schamlos, aber fast in einem paradiesischen Sinn (29) – Das Leben in neun Kapiteln der Mobilität (39),
und von hinten geblättert nach vorn (die Mitte spar ich mal aus):
Die Macht schleicht sich in ihre Gesichter (134) – Sie tun es im Wald, weil die, die es in der Natur tun, ein bißchen verrückter sind und jünger im Herzen (132) – Die ersten, hellsten Sterne eröffnen die Sitzung des Firmaments (129) – ernst und schmal wie eine Birke (126) – Der Alkohol verlängert die Blicke (98) – Das Aufbrechen der Nußschalen hallt im Duneln, die Kacheln kennen das Gräusch noch nicht (92)
— ist die sprachliche, ich sage mal, Herausforderung für einen wie mich zu gering, gechweige denn, daß ich in diese Art Rausch geriete, die mich die wirklich großen Texte (Ulysses, Gravity’s Rainbow, Melodien, Tod des Vergil, Ada, Die Kinder der Finsternis, Fahlmann usw.) immer wieder erleben lassen. Für jeden anderen, jede andere – für Menschen, kurz, die nur eine niveauhohe Unterhaltung von ihren Lektüren erwarten – ist das Buch perfekt, und zwar nicht nur Röslers bisweilen frapanter Einfallskraft wegen, die geradezu beiläufig erzählte Bizarrerien mit Ironie würzt, jedenfalls einem ausgesprochen trockenen und deshalb so schlagenden Witz, aber auch zu satirischen Episoden neigt (etwa die Kunstschwätzerei eines regionalen Kulturbeamten persiflierend, und zwar über Hundehaufen, bei deren „Schockgefrierung und (…) Vergoldung es sich (…) um eine politisch gewollte Sichtbarmachung“ handle) — sondern wir haben es überdies mit einer, völlig gegen den realismusstilistischen Vorschein, phantastischen Erzählung zu tun, die den so nachpostmodernen wie veganen, sagen wir, Neo-Rousseauismus aufs Korn nimmt. Was ich hingegen als störend empfand, sind die sehr vielen Stellen, denen Röslers – offensichtlich höchst präzisen – Recherchen nicht nur anzumerken sind, nein, sie drängen sich als recherchiert vor. Wir merken es daran, daß wir selbst dauernd aufgerufen sind, etwas nachzuschlagen, Gottheiten des Voodoos etwa (findet sich alles sehr schnell), aber auch gemeinhin unbekannte Begriffe, die für Vergleiche herbeibemüht werden, ohne daß sie in einem organischen Zusammenhang mit der Erzählung stehen. Dafür nur ein Beispiel:
Der Sohn wird sich euren Gesprächen verweigern, Gesprächen, die eure wahren Interessen verdecken sollen wie Otohime die Stuhlganggeräusche auf japanischen Toiletten. (118)
Otohime ? Schauen Sie selbst nach. Nur, wieso verwendet ein afrikanisch bekehrter Weiß[3]ein Weißer aus Deutschland schamane dieses Wort? Japan spielte bislang gar keine Rolle. Und auch beim Voodoo frage ich mich, ob nicht in der Erzählung ein Kunst-Volksglaube angemessener gewesen wäre; wir hätten dann nicht seine, des späteren Schamanen, Beninreise bei GoogleEarth → mitmachen müssen und eben auch nicht bemerkt, daß von der Atmosphäre der dort zu sehenden Bilder, überhaupt von einer „afrikanischen“ Sphäre, im Text selber nichts, aber auch gar nichts zu spüren ist, weder Geruch noch Farbe noch Staub. Spürbar wird die Reise erst, als sie halluzinogen war.
Trotzdem, alles andre als ein verlorener Tag. Es gibt solche Bücher, sie tragen uns mehrere Stunden; wir schlagen sie zu, sind zufrieden. Doch weiter wirken tun sie nicht, schon gar nicht lebenslang. Ich nenn sie fortan Sonntagsbücher. Schon → das da war so eins. Imgrunde sind s i e, was der Buchhandel braucht: daß, hatten die Lesenden Lust, sie gleich ein nächstes kaufen, anstelle in einem Buch, → „das einen über alle anderen Bücher hinwegträgt“, wochen-, ja monatelang festgebunden zu sein — und Leselust kann ich bei Rösler den meisten von Ihnen versprechen:
Alexander Rösler
Der Mann hier unten
Ein Roman
144 S., geb., 22 €
Literatur-Quickie-Verlag, Hamburg 2023
ISBN: 978-3-949512-16-2
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Dann aber d a s. Das andere, von dem ich weiter oben sprach; ich habe es → dort schon einmal erwähnt.
Also die „Raumerweiterungshalle“ Kopenhagener Straße, Prenzlauer Berg, wo diese Lesung stattfand.
„Sag mal“, fragte mich in der Pause Lou Probsthayn, der Verleger, „hast du nicht über → Sigrid Behrens schreiben wollen?“
„Oh ja, ja, ich hab das ganz vergessen.“
Es ging „einfach“ unter – war untergegangen – in meiner nahezu ausschließlichen Arbeit, diesem Arbeitssog dreier Monate, an den Triestbriefen. Unbedingt hatte ich wollen! Aber vielleicht mir etwas vorgemacht, nachdem ich ihrer Lesung in Hamburg zugehört hatte? Ich überprüfte es nicht mehr. Jetzt, nach Rösler, war ich noch hungrig (obwohl ich gleich auch über ihn eine Rezension schreiben wollte – was ich nun in etwas abgespeckter Form hier in Der Dschungel getan habe) — aber hungrig nach Sprache, nach Eleganz und ausgehorchten Rhythmen, ineinander Verschränkungen, nicht-profanem, nicht-„einfachem“ Ausdruck (der mich auf Dauer ödet, weil er die Artistik lähmt, die zu jeder Kunst gehört; die sogenannt Einfachheit ist ein Irrtum, unterkomplex). Sondern ich halte es mit Josema Lima, bekanntlich:
Nur das Schwierige ist anregend; nur der Widerstand, der
uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig
krümmen, es wecken und in Gang halten.
José Lezama Lima, → Die amerikanische Ausdruckswelt
Und weil ich hungrig eben w a r, zog ich nun – mußte gar nicht lang suchen – Behrens‘, ich sag es gleich, → hinreißenden Roman heraus. Jetzt bin ich bereits bei S. 98 (von 179) und werde für Faustkultur drüber schreiben (und meinen Text einzwei Wochen später dann auch hier in Die Dschungel kopieren). Denn was mich nun erwartete, war vom ersten Satz an
Später, viel später, wird sich die Fassungslosigkeit, die aus Andreas‘ Augen heraus über Claire niedergeht, auf ein einziges Wort reduzieren lassen, auf ein Warum von (für Andreas) globalem Ausmaß.
GM 9
atemberaubend. Dabei ist auch dieser, na gut, nochmals, „Plot“ für mich ein längst überlebter, eine Dynamik, die ich abgetan habe, weil ich darüber weggeschritten bin (und nicht nur einmal durch den ganzen Sumpf gestampft); kurz, es wird eine Liebes-, Beziehungs- und Trennungsgeschichte erzählt, die eines „guten“ Paars
was sie so lange gewesen sind. Und was sehen wir? Ein Haus.
GM17
Doch … — meine Güte, w i e sie erzählt wird, diese Geschichte! Und mit welcher Gerechtigkeit, immer beide Liebenden vor Augen, bei beiden immer das Herz, dabei auf das souveränste von der elgantesten Hochsprache ins Umgangsdeutsch der Dialoge wechselnd, manchmal sogar im rhythmischen Fließtext – nichts hier ist Fremdkörper, alles eingesogen, einsaugbar — das nun ist wirklich Kunst. Dazu die niemals nervösen, sondern tänzelnde, sogar tanzende Hypotaxen:
(… ) und Claire ist zufrieden. Bis sie angekommen sein wird, dort, wo das Gefühl der Verbundenheit sie endlich aus seinen Fängen läßt, gilt es, denkt sie, jede Papierserviette mit besonderer Hingabe an den Mund zu führen, mit dem Finger über jede saubere Oberfläche zu fahren, und jeden Wasseranschluß zu begrüßen: auch die Worte all jener, die man ohne weiteres verstehen kann. Es gilt, den Gedanken nichts in den Weg zu stellen, sie durch sich hindurchfließen zu lassen, ungehindert, unbedacht, all diese Bilder in ihrem Kopf, die Köpfe all derer, die sie zu Hause, in ihrem alten Zuhause weiß, die Körper ihrer Kinder, die plötzlich wieder so schnell gewachsen sind, und Andreas‘ Körper, der sich seit ihren letzten Jahren (Andreas, letzter Sommer: Von wegen, guck mal hier! Claire: Ja eben, genau da guck ich hin.) — Schluck für Schluck, denkt Claire, und: ich werde versuchen, mich auszutrinken.
GM 37
— allein der letzte Satzteil hier! (Ich bin komplett gefangen).
Aber nein, nein! Ich darf nicht jetzt schon schreiben, will mich nicht verschießen und sowieso erst einmal zuendelesen, heute, nachher, nach der Rasur. Empfehlen aber muß ich’s schon jetzt.
Also:
Die und der nicht warten will, bestelle klugerweise g l e i c h — Ihr werdet g e s a l b t von der Sprache Sigrid Behrens‘ werden:
Sigrid Behrens
Gute Menschen
Roman
180 Seiten, gebunden, 18 €
Minimal Trash Art (MTA), Hamburg 2022
ISBN 978-3-9814175-6-2
→ Bestellen
Ihr ANH
References
↑1 | Selbstverständlich liegt hier immer noch mein ebenfalls auf Chats beruhender Roman „Die Liebe in den Zeiten des Internets“ herum und wird vielleicht eines Tages fertiggestellt werden, w e n n indes, dann in einer sprachlich komplett anderen Gestalt. |
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↑2 | Der Titel zielt aufs → Ghosting. |
↑3 | ein Weißer aus Deutschland |