ist es vielleicht noch gefährlicher, als es die Russen sind, die es tun, also mit dem Atomkrieg zu drohen. Vasallen sind bereit:
[Arbeitswohnung, 7.01 Uhr]
Es macht mich dieses s c h o n nervös; ich laß es zu so großer Sorge wie vor einem Jahr aber nicht kommen. Sie änderte nichts und würde mich lähmen, ein Zustand, den ich weder will, noch würde er irgend etwas, geschweige jemandem helfen — genauso wenig, wie die ständigen State- und Gegenstatements, ob nicht auch der Westen einige Schuld an Rußlands unentwegtem Angriffskrieg habe (was etwa → sogar Kissinger meint). Er ist da, und wir sind verquickt, sehr wohl humanitär (wie → diese Friedensforscherinnen und -forscher halte ich, der Ukraine Waffen zu liefern, für einen in ihrem „Fall“ humanitären Akt), egal, ob wahrscheinlich auch mit Machtinteressen; doch selbst das „wir“ ist fraglich, flirrend, behauptet. Es sprechen die Ideologien jeder Seite. Und ich war schon erschrocken, als beim Plaudern am Weinstand ein fast befreundeter Bekannter → mit Macgregor sprach und alles, alles glaubte, was er sagte. Es war kein Ankommen dagegen, stets wußte er einen neuen Beleg und hielt ihn für Beweis, hatte Einsicht (also habe sie) in mir schon deshalb unbekannte Dokumente, weil ich nicht von morgens bis abends am Recherche-Surfen bin. Ich schwieg dann irgendwann. Was zum Themenwechsel führte, und der Freund war wieder vernünftig-normal.
Es ist die dunkle Kehrseite dessen, was ich im Jahr 2000 bereits im Flirren im Sprachraum schrieb: daß wir „wissen“ meist gar nicht mehr können, sondern brikolieren müssen, um zu erkennen. Im Krieg ist das kein Spiel mehr, sondern bitter bis vernichtend – und dennoch die Urteils-, zumindest Meinungsgrundlage der allermeisten von uns. Wir kommen da nicht heraus. Die Welt als materielle Fiktion. (Und der Journalismus ist längst nicht mehr Chronist, sondern politischer Teilnehmer, als publizierte Instanz manipulativ bis agitatorisch, die pure Beschreibung – Darstellung – womöglich gar nicht mehr möglich.)
Irgendwo las ich, es werde „die Natur“ die Klimakrise richten — mit danach wahrscheinlich sehr viel weniger Menschen auf der Welt. Auch d e n Gedanken hatte ich schon: Krieg als selbstregulativer Prozeß der Natur. Die Schalen der Waage schaukeln sich ein, bis die Gewichte wieder in Balance sind. Schwierig, den Sturm anzuklagen; wir können nur versuchen, uns und die unsren zu schützen.
Und eben – unsere Arbeit zu tun, unsren Leidenschaften zu folgen und unserer – ich sage es bewußt pathetisch – Mission. Die meine heißt Literatur, heißer gesprochen: die Dichtung. Hendrik Jackson hat → ein sehr schönes Buch dazu geschrieben, vorgestern hab ich’s rezensiert und meinen Text an Faustkultur geschickt, mal sehen, wann er „gebracht“ werden wird. Meine Leseempfehlung aber schon hier:
Nur Überschwang setzt aus der Starre in Bewegung und über sie hinaus. Im Schwange sein heißt im Schwung zu Ungeahntem. Das Tönerne des falschen Götzenbildes wird durch Posaunen zum Einsturz gebracht. Die lächerliche Macht der Nachahmung räumt die Stätte für die Nacht der Ohnmacht, aus der wir anders hervorgehen. Luftholend und und atemnehmend, aus voller Lunge, weite Tragflügel und Überschwang. Schwärze ringsum, dann wieder Überblendungen, klettet sich ein Bild am Andern fest, gleitende Vereinigung, und erst nach langen Phasen der schmerzhaften Rekonvaleszenz: jene Spätlichtklarheit, Aufzeichnung von Kompendien, Bezeichnungen und milde Stille eines abgeschirmten Kolorits, sachgemäß und ausmessend die Wölbung der Schale —
Jackson, Zerbrechende Schale, „Kreuzzug der Poesie“
Sie merken, Freundin, schon, um dieses Buch genießen zu können, müssen sie philisophisch sowohl meditieren können wie – in Sprachbildern träumen. (Es erschien 2007 und ist ganz offensichtlich untergegangen, so wider die Zeit.)
Die Dschungel paßt auf, daß wieder aufgetaucht wird, neulich → bei Behrens (deren Debut ich nun ebenfalls zu lesen begonnen habe und über das ich sicherlich a u c h schreiben werde, wohl aber nur hier in Der Dschungel), nun bei Jackson. Ich geh ja selbst dauernd unter … gut, gut, nicht „ich“, sondern meine Bücher tun’s – oder bleiben g l e i c h unter des Wahrnehmungswassers kaum aufgekräuselter Oberfläche; nicht einmal kabblig ist sie von ihnen, die See. So habe ich, nachdem die Béarts erschienen sind, zwar gehofft, vielleicht sogar erwartet, zum → diesjährigen Poesiefestival eingeladen zu werden, aber wer stellt sich schon gegen die gendrigen Bora, die aufböen würde sofort, mit einigen heftigen Spitzen? Kuratoren, Kuratorinnen können da nur verlieren, etwas, das Stars ungern tun. Ich kriegte das schon bei Meere mit, 2003, diesem „Meisterwerk männlicher Prosa“ (Carsten Otte) und seinem, des Buches, Lektor damals, Denis Scheck, jaja. Schon „männliche Prosa“ trägt unterdessen das ausgerufene Fragezeichen des weißen alten Mannes als Stigma. Sind Stigamata aber nicht göttlich?
Und da haben die Menschen: Barrabas, Barrabas gerufen. Gut, daß sie nicht ihn freischrien, den Aramäer: ein Verrückter, Sektierer, der in hochmütigen, singenden Thesen sprach. Er ging auf in der Wirkung, brauchte niemanden, aber wollte Seelen. trieb sie auf die Spitze der Entscheidung zwischen Wahn und Schwermut zu. Leckte nach Ruhm, ließ keine rhetorische Wendung, die vor den Kopf stieß, aus, jähzornig und siegesgewiß. Herrlicher Nietzschechor, der den Verbrecher und Aufrüher heraus in die Freiheit rief, die ihm seit Anbeginn gehört.
Jackson, Zerbrechende Schale, 72/73
Doch immerhin, was ich mir lang gewünscht (worüber ich oft verärgert war, nicht aufgenommen zu werden, in beiderlei Wortsinn), wird nun heute geschehen: Um 14 Uhr Studiotermin für Lyrikline.org (ich werde gleich vorzutragen proben, hier vor meinen Mikrophonen). Sieben Gedichte habe ich für die eine Stunde Aufnahmezeit aus all den vielen gewählt, darunter den Faubourg Sant Denis eben aus den Béarts. → Lepres italienische Übersetzung wird mit auf die Website kommen, allerbestens, bestens, gut. Und mit der Hochzeitsrede bin ich endlich, endlich fertig geworden; es wurde wirklich Zeit. Heute noch formuliere ich aus dem bereits gut fließenden Entwurf die Erste Fassung und schicke sie dem Paar. Bin sehr gespannt auf die Reaktion der zwei, aber mir sicher. Dennoch, ein paar Kleinigkeiten werden sie ergänzt, vielleicht auch gestrichen und/oder durch anderes ersetzt haben wollen. Doch dafür, bis Mitte Juli, ist gut Zeit. Indessen Christoforo Arco mit den Briefen nach Triest auf seinem agrarischen Anwesen in den Piemonter Alpen weilt und liest — noch kaum erreichbar, da er keinen Netzanschluß hat: Eremitage.
F a r b e, Freundin, hab ich bekommen – von meinen zwei täglichen Lektürestunden unter der Sonne am Helmi. So fühl ich mich wohl in der Haut — und bastle weiter am Handtattoo rum.
Ihr ANH
[17.05 Uhr
Rone, → L(oo)ping (2023)]
Pressebemusterung – aber ob mir diese, nun jà, Musik gefällt? Vielleicht können ja Sie etwas mit ihr anfangen. Mich nervt das erste Stück bereits. Kann aber sein, daß die Einspielung die Szene braucht, also als Gesamtkunstwerk anzusehörn ist.
Dafür lief die Aufnahme bei Lyrikline gut. Ich konnte tatsächlich nicht nur noch die vergleichsweise lange Vierte Bamberger anfügen, sondern auch „Das böse Kind als alter Mann“. Womit es nun doch n e u n Gedichte geworden sind.
Ein, was mir immer gefällt, ausgesprochen aufmerksamer Aufnahmeleiter, Heiko Strunk. So macht es Spaß, Texte einzusprechen, ich schätze andre kontrollierende Ohren. Wir hatten schließlich sogar Zeit, die heikelsten Stücke zu schneiden. Dennoch gibt es einen Wermutstropfen: Lyrikline.org hat einen Rückstau von fast einem Jahr; bis meine Aufnahmen online abrufbar sein werden, können, „Ich mag’s dir fast nicht sagen“, einige Monate ins Land gehen. Doch immerhin, nun ist es auf dem Weg, und wenn der Zeitpunkt da ist, werd ich’s, Freundin, Ihnen hier schreiben.
Jetzt ein bißchen lesen, die Hochzeitsrede ist hinaus. Leider aber keine Sonne, deshalb auch kein Helmholtzplatz.
(Rone: Molto rumore per nulla.)
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