[Arbeitswohnung, 10.30 Uhr]
Gute, von Lektüre, Gesprächen und Begegnungen gefüllte drei Tage; gestern abend Sohn & Vater gemeinsam → im neuen, wohl letzten Indiana-Jones-Film, der aber nur solchen Spaß macht, die von der Figur geprägt worden sind, und das sind er und ich, wobei ich es eine Generation früher wurde als er — denken Sie, Freundin, den Umstand hinzu, daß ich, relativ gesehen, ein „alter“ Vater bin, weil ich bei der Geburt meines Sohns zweiundvierzig war, ließe sich’s sogar von zwei Generationen sprechen. Der unterdessen, naturhalber, deutlich alte Harrison Ford läuft zu einer Hochform auf, die seine physische Befindlichkeit nicht wirklich mehr umsetzen könnte, aber „wirklich“ ist in dem Film eh nur wenig; daß bisweilen Syrakus zu einer Stadt im Gebirge wird, gehört ebenso dazu, wie die Ape-Verfolgungsjagd durch engste Gassen, während der diese Gefährte die wunderbare Eigenschaft haben, im vollen Run stoppen und mit selbem Tempo rechts abbiegen zu können – was ungefähr einem Gewehr gleicht, daß um die Ecke schießen kann. Und sicher, extrem viel ist schlichtweg computeranimiert, und weil Actionszene auf Actionszene folgt, ohne daß es – anders als in dem schwer unheimlichen Indiana Jones and the Temple of Doom (1984) – irgendeine Tiefe gäbe, wird eine jede doch ziemlich schnell langweilig; also, ich sag mal, der Film hat mit 154 Minuten Spieldauer um die 45 zuviel. Unbezweifelbar ein Höhepunkt ist aber Jones‘ Galopp, ja, auf einem Pferd, durch die UBahn-Stationen mitsamt Kunstreitsprung über die Personenschranke; es war einfach keine Zeit, erstens ein Ticket zu lösen und es zweitens auch noch in den Entwerter zu stecken. Das ließ sich selbst realistisch begreifen. Ebenfalls fürtrefflich ist die, archäologisch betrachtet, recht moralfreie weibliche Hauptperson mit Phoebe Waller-Bridge besetzt, zumal es mir eine besondere Freude bereitet hat, ihren auch hier mal wieder karikaturhaft trottelig dargestellten Vater unversehens (und zurecht) ein „Genie“ genannt zu hören, wobei er ja in der Tat eine US-amerikanisch-volksABERbajuvarische Variante des geistig zwar begnadeten, ansonsten aber verrückt-verklemmten Professors ist, wie es etwa auch, in Polanskis The Fearless Vampire Killers („Tanz der Vampire“), der gelehrte Herr Ambronsius war. Wozu der vollendete Handstand — und nicht nur zu nachher dem Pferds- und Ape-Galopp — auf irritierende Weise paßt, den vor der Vorstellung mein Sohn, nämlich auf den Händen gehend, dem Vater vorgeführt, dessen Stolz darob sich kaum ausdrücken läßt, auch wenn es ihn sich erinnern ließ, in welcher Verfaßtheit er selbst einmal[1]Immerhin muß ich „einstmals“ noch nicht schreiben. war — v o r dem nämlich, sagen wir, „Krebsgang“:
[12.36 Uhr — DVD: Strauss, Salome
Catherine Malfitano, Giuseppe Sinopoli, Deutscher Oper Berlin 1990]
Das, die Salome, vor allem — neben weiterhin und unablässig d’Arrigos Horcynos Orca — beschäftigte und beschäftigt mich weiter, obwohl → meine Rezension ja nun geschrieben ist; vorhin kam auch noch die DVD der Deutsche-Oper-Inszenierung unter der Stabführung des an genau diesem Pult (bei einer Aida-Aufführung) tot zusammengebrochenen Giuseppe Sinopolis mit Catherine Malfitano an, deren Salome-Inkorporation auf schaurige Weise diesem Tod entspricht; von allem Anfang an, bisweilen etwas zu viel, doch im Ergebnis überwältigend, dämonisiert sie die judäische Prinzessin, bringt aber genau deshalb — als sehr schöne, ja, aber deutlich reife Frau; der eigentlich zickigpervers nötigen noch halben Mädchenhaftigkeit geben Behrens und Grigorian die Gestalt — Penthesilea mit zur Erscheinung. Wiederum Simon Estis‘ – leiblich wie stimmlich glänzend schwarzer – Jochanaan läßt Salomes erotisches Besessenwerden sofort begreifen, zumal bei diesem Stiefvater:
Den Abdruck deiner kleinen
weißen Zähne
in einer Frucht seh‘ ich so gern.
Und Malfitano ver– im Wortsinn – wirklicht den Schleiertanz, kennt keine Scheu, keine Grenze, i s t Salome auch hier:
Sie kann es aber auch. Als, in meiner Frankfurtmainer Zeit, ständiger Striptease-Besucher hab ich da einige Kenntnis. Im Tanzen ausgebildet, führt Malfitano die Szene in völlig transparente Gaze gehüllt vor, durch die Sie die Schambehaarung erkennen, ihre (makellosen) Brüste sowieso, aber vor allem, was ich als geradezu ungeheueres Sinnbild erlebe, ein dunkles, auf quasi Dreitagesbartkürze wie geschmirgeltes, gleichsam erschattendes Achselhaar. Und weil der Körper durchtrainiert — nein! nicht ein „Körper“, sondern L e i b —, gestaltet sich der Tanz von selbst, gestaltet sich ohne auch nur die Spur von Peinlichkeit a u s s i c h. Hinzukommt, daß Sinopoli die dissonanten nicht nur „Tendenzen“ dieser frühen, expressiven Straussoper höchst scharf am Rand ebendieser Dissonanzen entlangdirigiert, indes Karajan ausgesprochen dazu neigt, sie von den süffigen Wogen der strauss’schen Instrumentalkunst rauschhaft verdecken zu lassen— die Blechbläser hätten geklungen, → schrieb Heinz Josef Herbort damals in DIE ZEIT, „wie mit Samt ausgeschlagen“. Um Strauss’ens „Salome“ also wirklich zu verstehen, sollten, Freundin, Sie tatsächlich genau diese beiden Interpretationen kennen, Karajans und Sinopolis; schauen wir selbstverständlich ungern von Asmik Grigorians Salome-Präsenz einmal weg, tat Welser-Mösts Salzburger Dirigat 2019 nichts, aber auch gar nichts hinzu. Denn wie auch? Ein über diese beiden Interpretationen Hinaus! ist mir nicht vorstellbar. Ich würd es auch kaum überleben.
Und aber vorgestern abend wieder ein Treffen mit meiner russischen Übersetzerin Tatiana Bakakova, die derzeit schon an Argo sitzt, Argo.Anderswelt, worüber sie einen ganzen Aufsatz für die Nummer 7 von → Иностранная литература geschrieben hat, die dieser Tage erschienen ist. Auf Russisch, selbstverständlich, so daß ich deepl nutzen mußte, um den Text zu lesen; allerdings ist das Übersetzungsergebnis stilistisch recht mau. Da müßte schon ein Profi ran. Doch wie auch immer, Benjamin Stein kam dazu, für einige Zeit auch लक्ष्मी; unser Sohn hatte erst gewollt, sich dann aber entschuldigen lassen, da wir doch ohnedies für gestern abend verabredet seien, Vater und Sohn, und er grad ziemliche Kopfschmerzen habe.
Wie auch immer, mir war wichtig, daß Baskakova Bekanntschaft auch mit seinen, Steins, Dichtungen macht — „Bring ihr Die Leinwand, vor allem aber Ein anderes Blau[2](weil ich es liebe) mit“, bat ich ihn, worauf er sich erst ein bißchen zierte, es dann aber doch tat; es ließ sich alles | dann auch gut an —, vor allem aber hatte mir Cristoforo Arco nahegelegt, meinerseits i h r, Baskakova, doch nahezulegen, erst einmal die Triestbriefe zu übersetzen, bevor sie an Argo gehe, einfach, weil es dann doch das neueste Buch sein werde (und, „nebenbei“, nicht g a r so lang wie der dritte Andersweltband, sowie es nicht zuletzt der erste Roman sei, der die Ästhetik der → Pentalogie mit der des Traumschiffs und von Meere in die Synthese führe; wir haben beide von meinem „ersten Alterswerk“ gesprochen — eine Einschätzung, die ich, wie Sie wissen, schon einigermaßen lange mit mir herumtrage). Was ich nicht wußte, übrigens, war, wie vertraut Stein, ja wie beeinflußt von ihr, mit der russischen Literatur ist, weit, weit mehr als ich. So war dies eine wunderbare Brücke für Baskakova und ihn, die sie auch beide beschritten, sorgsam sozusagen im Paßgang, um sich in der Mitte dann zu treffen. Ein Genuß, dem zuzuschauen, zuzuhören! (ich hätte eh nichts sonderlich Substantielles beitragen können).
Es wurde halb zwölf – लक्ष्मी war da schon lange fort –, bis wir uns trennten; Stein stieg ins Taxi, ich brachte Baskakova zur SBahn Schönhauser Allee, wo wir allerdings, weil’s mal wieder Zugausfälle gab, zwanzig Minuten warten mußten. Auf keinen Fall hätte ich die Frau allein dort stehen lassen und spazierte, als ich sie sicher im Waggon nach Halensee wußte, durch die Nacht bereichert heim.
Und eben erreicht mich eine Mail der Staatsopern-Pressedame, die mir, was mich erleichtert, meinen, nun jà, leider, Verriß überhaupt nicht verübelt, vielmehr schreibt: „Dann hoffe ich, dass Ihnen kommende Spielzeit einige Inszenierungen mehr zusagen.“ Das, in der Tat, hat Grandezza, zumal, wenn Sie, liebste Freundin, bedenken, daß aus meinem Text ja nun offen hervorgeht, daß ich Aufführungen mitschneide, um meine Abendeindrücke zu überprüfen, bevor ich mich öffentlich äußere. Allerdings war ich der indes nie verifizierten Überzeugung, die Häuser wüßten es eh; wer meine Kritiken liest, kann gar nicht anderes denken. (Eine Ausnahme macht die Berliner Philharmonie; ich möge aufs Mitschneiden verzichten, bitte, doch einfach bescheidgeben, dann bekäme ich sofort einen Mitschnitt des Hauses. Einsehen, daß ich, um angemessen zu schreiben, so etwas brauchte, war in derselben Sekunde da, als ich es sagte. Da wundert es noch wen, daß ich mich im Musikbetrieb wohler fühle als dem der zeitgenössischen Literatur?)
Ihr ANH
16.40 Uhr
[Das Beitragsbild hat → dieses (© @intospace0) als Untergrund]
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