[Einmal n i c h t für Faustkultur geschrieben,
einfach, weil ich ausnahmsweise schnell sein will.
ANH]
Ich wußte es nicht, Fügung war es geradezu, daß ich gestern abend zu arte schaute — und → dieses Konzert angekündigt sah (d a noch mit dem „live“-Vermerk), nämlich Joana Mallwitzens Antrittskonzert als neue Leiterin des Konzerthausorchesters Berlin. Tatsächlich hatte ich angenommen, es finde erst → am 7. statt, nämlich im Rahmen des diesjährigen Musikfests Berlin, und mir selbstverständlich sofort eine Karte besorgt, zumal → der von mir so geschätzte Augustin Hadelich dabeisein wird … Welch eine Greenhornerei! – also die meine. Denn selbstverständlich gibt eine Dirigentin, ein Dirigent ihre und seine „Inauguration“ am Haus ihres künftigen Wirkens, egal, ob der Klangsaal gerade der Berliner Philharmonie dem des Konzerthauses weit, weit überlegen ist. Ich hätte einfach mal nachdenken sollen. Und jetzt war ich zu spät gleich in zweierlei Hinsicht,
zum einen dafür, persönlich mit dabei zu sein,
zum anderen, weil es schon 21 Uhr war: Ich hatte die erste Hälfte des Konzertes verpaßt und klickte ins stehende Pausenbild rein (die vorbildliche digitale Konzerthalle der Berliner Philharmoniker füllt so etwas mit Interviews). — Nun gut, Weill hat mich sonderlich nie interessiert, das mag ungerecht sein; ich werde ihn heute vormittag „nachhören“; bis zum 30. 11. steht das gesamte Konzert noch → online. Wer weiß, vielleicht weist Mallwitz mir einen Weg … Denn ich bin ihr schon verfallen, war es bereits nach dem ersten Interview, das ich mit ihr sah und den in es eingeblendeten Proben. Dabei ist sie, anders als die Cardinet, gar nicht mein Typ, viel zu, viel zu blond. Doch spricht sie, vor allem zu den Musikerinnen und Musikern, bin ich nur noch berückt. Es ist ein sanfter, selbst im herrlichen Lachen, Eros, der aus ihr strömt und sich um jede und jeden schmiegt, die und der es sieht. Die Mallwitz lacht oft, und überwältigend lacht sie, nämlich gewaltlos; solch eine Helle! Schon das ist eine Seltenheit, zumal bei Dirigenten.
Ich war zu spät, jaja, hatte doch bis eben noch an → dieser Übersetzung gefriemelt, einer Nachdichtung eher — doch nu‘ würd‘ Mahler kommen, ausgerechnet seine erste Sinfonie, die es gewesen, durch die ich ihn entdeckte, damals, mit sechzehn oder siebzehn, eine Platte auf dem Grabbeltisch, wahrscheinlich für fünf Mark, Bruno Walter, CSO, 1961. Und nie mehr von ihm loskam.
Noch immer stand das Pausenbild und stand.
Ich in die Küche, die Kartoffeln waren gar, die Königsberger Klopse erhitzt … Mit dem gefüllten Teller zurück, jetzt war der Konzerthaussaal zu sehen und wie sich das Publikum setzte.
Sie wissen, Freundin, ich bin privilegiert mit meiner Musikanlage. Und weil ich laut hören wollte und es doch schon so spät war, nahm ich meine Staxe. Höchst fraglich, ob ich im Konzerthaus ähnlich klar hätte hören können – zumal am großen Bildschirm sehr viel besser zu beobachten ist als in der Totale des direkten, aber eben entfernten, manchmal sogar weit entfernten körperlichen Dabeiseins. Denn worauf kam es mir an? Ich wollte die Interaktion sehen, wie dirigiert diese Frau im realen Konzert? und eben nicht in den Proben, von denen ich Aufzeichnungen, wie erzählt, bereits kannte. H ä l t diese ungemeine, bei gleichzeitig extrem musikantischer Leidenschaft, Menschlichkeit? Ticciati, → tags zuvor mit Mahlers Lied von der Erde, hatte wie ein manngewordnes Metronom dirigiert, geradezu robotisch, gut dirigiert, ja, sehr gut, doch eben, ich sag mal, „android“ — und die Gesangssolisten zeitweise niedergelärmt. लक्ष्मी, die mich begleitete, sagte später, es sei ihr vorgekommen, als hätte Karen Cargill, die Mezzosopranistin, in einer akustischen Presse gestanden, die ihr die Luft nahm. Aber es litt auch der eigentlich rasend schöne, sehr englische Tenor David Butt Philips; wer Bethges Nachdichtungen nicht auswendig kennt, hörte bisweilen — nichts. Die rein orchestralen Partien dagegen waren, besonders im „Abschied“, in Klangfarben gemalt, auch wenn das DSO sich mit den großen Orchestern der Welt messen noch nicht kann. Und Unsuk Chins → Šu dirigiert er, als wär’s ein Stück von Xenakis (indessen besegte sich tänzelnd Wu Wei). Dennoch steht es, das DSO, unter Ticciati nun a u c h für das, was ich wirklich Zeitenwende nenne, eine o h n e Krieg, auch ohne den der Geschlechter. „Kein Konzert ohne Komponistin“ hat Ticciati dieser Spielzeit nämlich zur → Losung gegeben.
(Wobei ich plötzlich denken mußte, jetzt, da die Geschlechter nivelliert werden sollen,
jede und jeder sein eignes bestimmt, Denaturierung muß ich es nennen, da rücken die
Frauen und Männer zusammen, beenden endlich das Patriarchat; der „Feminismus“ ist
der Verlierer des beliebig gewordnen Geschlechts, und damit ist es die „klassische“ Frau.
Da verliert dann „der Mann“ ganz genauso — der „cis-Mann“, wie mein Sohn sagt, der sel-
ber einer ist. Das spürn die „klassischen“ Geschlechter und rücken zueinander, so daß Eve
Queler nicht mehr allein ist, nicht länger Pionierin. Ach, es wird – Tár hin, Tár her – doch
so sehr Zeit!)
Und dann steht sie da, die Mallwitz, steht da und lächelt in ihr Orchester —
— was eben nur zu sehen ist, wenn wir den Mitschnitt verfolgen, vor allem, daß sie die Einzelnen sieht, jede und jeden für sich, als dächte sie nicht nur, nein, fühle in ihnen und mit ihnen mit. Und exaltiert sich geradezu im Taktschlag, ihr ganzer Körper bebt und — t a n z t. Und immer wieder dieses Lächeln, teils, ganz unversehens, in sich selbst hinein, obwohl – oder weil – sie diese Musik ganz in sich hat, die sie keineswegs zerfasern, vor Ergriffenheit, läßt, wie es bei Mahler Bernstein mitunter geschah. Interessanterweise aber deckt sie so, aus Liebe zu ihr, ihre Schwächen auf, solche, wie sie Celebidache gerügt hat, nur daß sie ihnen eben ein Recht gibt. Das war das spannendste gestern abend. Ich selbst war immer geneigt, diese Schwächen wegzudenken, schlichtweg banaler Themen zum Beispiel, oder sie mit Adorno mehr oder minder sophistisch aufzuedeln. Die Mallwitz indessen läßt sich ein. Meine Güte, ein fast noch Jugendwerk, Mahler war fünfundzwanzig, als er seine Erste begann! (Mit achtundzwanzig hatte er sie fertig.) Da kann sie, und dürft’s auch nicht, fehlerlos nicht sein, Reinheit ohne Makel. Genau aber das ist zu leben, wiederzuleben, wenn musiziert wird. — So unterschiedlich beide sind, Joana Mallwitz hat einiges von Currentzis, oder der von ihr. Auch bei ihr diese glühende Intensität. Und selbst, wenn wiederum er vierzehn Jahre älter als sie ist, war er – zumindest bis zum Ausbruch des Ukrainekriegs – ausgesprochen jugendlich und inszenierte dieses auch, eitel zugleich wie sympathisch; ein produktiver Narzissmus: Sein Beseelenkönnen anderer (die „männliche“, bisweilen, Rechthaberei mal beiseite) kommt dem der Mallwitz gleich; hinreißend zu beobachten war’s, und glücklich darüber zu werden, welch Feuer er dem geschundenen SWR-Orchester zurückgab. Hier trägt es s i e ins Konzerthausorchester hinein.
Ist es ein neuer Geist, ein heiliger aber der Erde? Die Ovationen jedenfalls, nachher, hörten nicht auf — nicht nur des vollbesetzten Saales, nein, auch der Künstlerinnen und Künstler untereinander; selbst hinterm Bildschirm spürt‘ ich das Glück. Die Mallwitz mochte gar nicht mehr aufhören, die einzelnen Musikerinnen und Musiker ins Rampenlicht des Applauses zu heben, und diese … sie strahlten ihre Dirigentin alle, alle an.
Ich bin ja nicht oft der Meinung vieler, doch hier reih‘ ich mich ein … nicht demutsvoll, nein, Musik ist kein Gebet zu jemand Höherem; das Höhre ist sie selbst. Partnerschaftlich also jubele ich mit dem Publikum mit, ich hab sogar am Screen geklatscht und stehe nicht an, Joana Mallwitzens Berufung ans Konzerthausorchester für eine der hoffnungsvollsten Sensationen des Berliner Musiklebens zu halten. Jetzt, da die alten Männer — ich, weil fast selbst schon einer, darf es schreiben — weg oder fast schon weg sind, selbst wenn sie gut, sehr gut gewesen, bricht wirklich Neue Zeit an, eine für die Kunst, deren höchste … nun jà, Sie wissen, Freundin, schon.
Ach schaun Sie diese Oboistin nur an, in ihrem Gesicht — die W e l t . So nah beieinander Weinen und Lachen. Und wirklich nicht „correct“.
Ihr
ANH, 1. September 2023
P.S.:
Ein Wort noch zu Unsuk Chins Šu, also zum Mittwochabend. Mir kam die Komposition
während der Aufführung wie unentschieden vor, als wäre rein nach Farben komponiert,
etwas, das sich irgendwann sozusagen totläuft. Es mochte an der Konzertsituation ge-
legen haben, daß ich keine Struktur spüren, vernehmen keine konnte. Jetzt, da ich das
Stück mir nun mehrere Male angehört habe, finde ich sie immer noch nicht, vor allem,
weil das Sheng wie ein in schmales Näseln verengtes Akkordeon wirkt – was völlig an-
ders war, als Wu Wei, der Solist, es in seiner Zugabe sozusagen los-, gleichsam von
der Leine ließ. Da war die Musik aber Jazz, so daß ich mir unsicher bin, ob das Sheng
selbst sich nicht selbst gegen feste Notationen stemmt: Ein Gedanke oder auch nur Ein-
druck, dem ich gerne noch nachgehen will.