[Arbeitswohnung, 7.50 Uhr]
Nach all dem teils auch unangenehmen Hin und Her war es gestern eine gute, eine sehr gute Probe → des Liederabends gestern. Sie ging von 14 bis fast 18 Uhr, ich bekam sogar meinen Notenständer (statt des unangenehmen Stehpults, hinter dem man sich wie Angela Merkel fühlt und ständig versucht ist, die Fingerspitzen aneinanderzulegen). Mit ihm, diesem Notenständer, war ich nicht mal versucht, Appeasement-„Politik“ zu betreiben; es genügte, einfach zu sprechen. Alle Widerstände, die ich gespürt hatte und gegen die ich mich sperrte — Sabine Scho sei wirklich gedankt, daß sie mich in einem langen Videocall auf den Boden des Pragmatismus hinunterzog —, brachen nicht ein, nein zerwehten einfach, und zwar allein, weil — jedenfalls, nachdem ich — die ersten Gedichte gesprochen hatte. Da sah John Parr vom Flügel auf und murmelte mehr, als daß er intonierte: „Du sprichst derart musikalisch!“ Spätestens damit war klar, daß wir meine Idee tatsächlich umsetzen würden, nämlich direkt, auch in den Zyklen, die Gedichte auf jeweils direkt das Lied folgen zu lassen, auf das sie reagieren. Und die noch in der (unterdessen revidierten) Druckvorlage des Programmhefts zu meinem Unwillen vorgesehenen Blöcke aus Musik einer-, Dichtung andererseits verschwanden wie die Berliner Mauer.
Ein unangemessener Vergleich, ich weiß, aber unsere Zeiten provozieren ihn, sehr: Krieg in der Ukraine und nun auch das Morden aus Gaza. , das sich → als Jubel bis zu uns nach Berlin[1]Allerdings ist → das hier unbedingt mitzubedenken. erstreckt. Wozu ich gesondert etwas schreiben wollte, es auch bereits entworfen, aber erst einmal noch zurückgestellt habe. Ich darf und will nicht abermals (wie in den ersten Monaten des Angriffskriegs Putins) zulassen, daß auch alles, was gut ist, und schön zusammenbricht, weil es einem derart marginal vorkommt. Das ist es nicht, im Gegenteil; wir müssen umso mehr darauf beharren, zumal wenn wir eh hilflos sind und an diesen Ungeheuerlichkeiten nichts, aber auch gar nichts ändern, allenfalls die Folgen abfedern können. Ja, es kann uns allen an den Kragen gehen, die bewaffneten, schmerzhaft euphemistisch geschrieben, „Konflikte“ können sich sehr wohl ausweiten und auch Westeuropas Leben bedrohen, unser aller, aber wenn das geschieht, müssen wir wissen, was auch wir kämpfend verteidigen werden. Dazu gehört die Kunst und ihre, neben der Schönheit, Freiheit. Abgesehen davon, wird auch in Zeiten des Krieges geliebt und abgewiesen und liebend begehrt und abgewiesen doch „angenommen“ auch:
And so thy thoughts, when thou art gone,
Love itself shall slumber on.
Shelley, When Soft Voices Die
Da die Sängerin und die Sänger noch weitere Termine, auch Arzttermine, hatten, probten wir nicht in der Reihenfolge des Programms, aber spannend war, daß alle, als sie denn im Saal waren, also im bestuhlten Foyer, bis ganz zum Schluß blieben, selbst wenn ihre Parts schon zuende. Die Luft vibrierte, wir spürten, daß wir hier wirklich etwas formten, das es so noch nicht gegeben hatte.
Zweidrei Umstellungen in den Abläufen gab es, eine grandiose Idee stammt(e) von Annika Schlicht: Bei Bridges Three Songs for Voice, Viola & Piano kehren wir den sonstigen Ablauf um. Jetzt wird das Gedicht zuerst gesprochen und dann das Lied aufgeführt, die moderne „Antwort“ auf den älteren Text geht ihm zuvor. Augesprochen spannend. Und bei den Zyklen lassen wir zwei dieser Antworten direkt aufeinanderfolgen, erst die Antwort nach dem Lied, kurzer Vorhalt, dann die vor dem nächsten Lied — einer Gigue, die unvermittelt zum Shanty wird und sich somit hinreißend als „Pausenreißer“ eignet. Einmal allerdings, ebenfalls bei Bridge, weil ich annahm, das Stück sei zuende, es aber mit nicht nur einem, sondern zwei „Scheinschlüssen“ endet vor dem Schluß, sprach ich viel zu früh los, Annika hob nur, „gebieterinsch“ die linke Hand mir fähig zu, shit, das war nun peinlich. „Ich brauche morgen unbedingt die Noten dafür, damit mir das nicht nochmal passiert. Entschuldigung.“
Wiederum bei Bax, ohne daß ich`s wußte, war die Reihenfolge zweier Lieder umgestellt worden, und ich fiel erstmal ins Nasse, kam aber gutschnell wieder hoch: ’s war ja allenfalls ’ne Pfütze. Schade nur, daß in der Akustik des Foyers der Steinway etwas pappig klingt. Ich merkte es vorsichtig an, der gerade bei den Gurney-Stücken hochkonzentrierte und tatsächlich wichtige Korrepetitor, der, die Partitur mitlesend, in einer der hinteren Reihen saß, stimmt mir vorsichtig zu — und John, irgendwie, bekam es hin, diesen Eindruck doch sehr zurückzudrängen; insgesamt geht es hier um eine ausgehorchte Balance, die bei der Kombination eines Streichquartetts mit Klavier und Sänger und obendrein einem Sprecher entscheidend ist, der etwas ganz anderes, vom Komponisten gar nicht Vorgesehenes, zu dem Lied hinzutut. Gurneys Ludlow and Teme ist mit Abstand das musikalisch Heikelste, weil Komplexeste des heutigen Abends und schließt ihn denn auch ab — wird ihn, um’s korrekt zu schreiben, abschließen.
Jedenfalls kann ich Ihnen, Freundin, kaum sagen, w i e beruhigt und, ja!, geradezu beschwingt ich mich zur Heimfahrt aufs Rad schwang. Und wie mich jetzt auf diese Aufführung freue.
Ihr ANH
(Und wer sich fürs Publikum alles angesagt hat! leider aber auch, des Hamasgrauens wegen, absagen mußte. Das tut mir weh, ist aber nun wirklich nichts im Vergleich zu Schmerz und Not der Freunde.)
[16.02 Uhr
Ivor Gurney, Ludlow and Teme]
Höre quasi unentwegt verschiedene Einspielungen der Musiken von heute abend, lese die Noten mit, stimme mich ein. Leider aber, leider, leider erreichen mich jetzt viele Absagen von Menschen, von denen ich mir innig gewünscht habe, sie seien dabei – „wären“ muß ich jetzt schreiben, ach — und doch, eine jede ist mehr als nur nachvollziehbar. Was es nicht einfacher, sondern noch trauriger macht, weil nicht nur für mich, sondern für sie aus nun gleich mehreren Gründen. Selbst mein Sohn, das ist für mich das schwerste, wird nicht dabeisein, eines sehr schweren, wohl auch schmerzhaften Hustens wegen, dessen, ich schreibe mal, „akustische Seite“ ganz objektiv weder dem Publikum noch gar den Musikerinnen und Musikern zugemutet werden kann. So sind sie beide traurig, der Vater und der Sohn.
Nun gut, ich komme damit zurecht, klar. Es möge nur kein Vorzeichen für den Abend-selbst sein. Etwas unruhig bin ich nun d o c h.
***