Das Krankheits-, noch immer, statt Arbeits-, „gefühlt“ indes fast Kriegsjournal — vor allem in den Träumen. Geschrieben am Dienstag, den 24. Oktober 2023, getragen freilich von Franz Fühmann und „aufzugeben“ in keiner Weise bereit.

           Bei allem Furchtbaren zur Zeit, es geht mir anders als dem Freund:

Und schrieb ihm gleich, es komme darauf aber grad an — wobei ich wohlfeil reden hatte, denn Neues scheib ich zur Zeit ja doch selbst nicht. Doch ich bringe nicht die Gründe durcheinander, die sich hier überlagern; bei mir geht es letztlich (fieses, komplett übertriebenes Wort in dieser Zeit!) darum, endlich die Triestbriefe fertigzubekommen, was aber nicht geht, so lange sie mein Verleger nicht durchgesehen und mir etwaige Einwände bekannt gemacht hat. Ich bin von ihm abhängig etwas, das zuzugeben, ja auch nur sehen zu müssen mir für sich schon genommen nur sehr schwer von den Tasten geht. Doch ich kann es derzeit so wenig ändern, wie ich diesen sch… Infekt einfach nicht loszuwerden scheine. So verbringe ich meine kostbaren Arbeitstage also vor allem im Bett, umgeben von Lektüren, umzingelt durch bisweilen heftig halluzinierende Träume: Immer wieder brennen meine Knochen, ich sehe die Feuer, die sich mit den Bildern aus Gaza vermischen, aus ihnen wahrscheinlich erst abgezogen sind, aber die Knochenschmerzen sind w i r k l i c h: an den Unterschenkeln, als legte die Haut die Knochen frei, indem jegliches Fett zwischen ihr und ihnen hinwegschmilzt, das die Berührung gepolstert hatte. Leider ist auch das aber nicht halluziniert, sondern tatsächlich habe ich in den vergangenen Tagen drei volle Kilogramm abgegeben, bin jetzt knapp über nur noch 67. Was überhaupt nicht gut ist. Doch bekomme ich es einfach nicht hin, meinem Körper den Hunger, geschweige einen Appetit einzureden.

            Alles mischt und mixt sich, malstromt hinabziehnd ineinander: objektiv der zähe Infekt (auch mein Sohn laboriert schon seit fast drei Wochen daran), suggestiv die Massaker und der Krieg, subjektiv eine für mich komplett neue Hypochondrie wegen der → Osteoporose-Diagnose. Und nächste Woche steht auch noch das Hautscreening sowie der Beginn eine deftigen, sich einige Wochen hinziehenden Zahnbehandlung an — bisserl viel Arzt auf einmal, ohne Aussicht auf ein Ende. Wie heißt es bei Sabine Gruber (ich zitierte es schon)?

Als hätte sich der Tod an der Langsamkeit und Bedächtigkeit ihres krankheitslosen Lebens mit einer beispiellosen Aufholjagd gerächt (…)

Ich bin konfrontativ nicht besiegbar, man kann mich nicht unterwerfen — aber zermürben. Jetzt, da mein drittes – oder sogar schon das vierte? – Lebensalter begann. Es hängt dies selbstverständlich auch mit meiner ökonomischen Situation zusammen; körperliche Behinderung etwa könnte ich finanziell nicht ausgleichen; es bliebe mir nichts als Pflegeheim-Prekariatisierung. Ein wenig mehr Erfolg meiner Bücher, ein wenig mehr Anerkennung und Respekt, würden es mir nicht ganz so schwer gemacht haben, vielleicht sogar leicht. Nun werde ich mich stellen müssen. Mit Geld wäre ich auch erotisch nicht einsam, und vielleicht hätte es dann diese ganze Osteoporose nicht gegeben, weil ihr gehörig Testosteron den Arschtritt hätte verpaßt, als sie sich hereinschleichen wollte. Mein Stolz indes hat seinen Pegel sinken lassen. Ja, auf der Höhe meiner Kräfte noch und nicht schon gezeichnet, oder mit etwas, es auszugleichen … Mich erregt der Anspruch, nicht Bequemlichkeit, und müßt ihm also entsprechen können. Kann ich dieses nicht, zieh ich mich zurück. Ich achte die Frauen zu sehr, um mich bemuttern, gar pflegen zu lassen.
Müßig also, diese Fantasie.

[Arbeitswohnung, 10.44 Uhr
Im Bett]

             Müßig? Aber nein, nein, nein! Nämlich auch wieder hier erhebt sich die Dichtung, Und mit welcher Gewalt! da doch Demeter nur noch verzweifelt ob der verlorenen Kore-Tochter, wozu noch die Welt? — als Baubo sich entblößt. Und davon darf ich nicht indirekt erzählen, das müssen, Freundin, Sie h ö r e n, wenigstens lesen selbst:

„Mütterchen“, rief Baubo mit schmeichelnder Stimme, in der ein leises Schmollen schwang, gerade so viel, als Ammen sich vor der Herrschaft herausnehmen dürfen. „Mütterchen, Mutter, du Ewig-Junge“ – und Baubo lüftete ihr Gewand und schürzte es bis über den Nabel –, „du Blühende, Schöne, sieh dir das an!“ — Die am Boden hörten es mit Entsetzen; wiewohl sie doch schon hingestreckt lagen, schienen sich sich ob solchen Erdreistens zu ducken, und so hinderte keiner, was nun geschah: Baubo hob ihren Chiton hoch, das Leinenhemd, wie Frauen es trugen, schürzte es bis unter die Brüste, und: „Blühende“, sprach sie, „schau dir dieses Ding an“, und sie wackelte mit dem entblößten Bauch, schwang ihn, den dicken, braunfleckigen, faltigen, über den dicken, faltigen Schenkeln und schwenkte ihr Mitte vor den Augen der Göttin, beim Namen nennend, was sie da zeigte: diese Haare, und diesen Hügel, und diese Wülste, und diese Lippen, und diese Höhle, und diese Mündung, und über dem klaffenden Schlund diesen Stempel, der, bei jungen Frauen ein rosiges Knöspchen, bei ihr beinah als ein Daumenglied ragte, fleischiggrau nackt, ein wackelnder Wächter. und sie wiederholte: „Sieh dir das an!“ Und da geschah es, daß die gramschweren Augen, die teilnahmslos schon zu erkalten schienen, zu sehen begannen, was Baubo ihr zeigte und was man im Alter doch ängstlich verbirgt: diese struppigen, spröden, weißgrauen Haare, diesen mürben Hügel, diese runzligen Wülste, diese gähnende vertrocknende Höhle und dieses nackten fleischernen Stempels ohnmächtig letztes Aufbegehren wider das Gesetz der Zeit, und Baubo, in den Blicken der Göttin fühlend, daß deren Augen sich erwärmten, ließ Bauch und Schenkel hurtiger tanzen, um ihr schrumpliges Leibloch, das sie noch spreizte, daß man sähe, wie tief hinab es dorre, und es war kein Makel in ihrem Tun, sie war auch jetzt nur die sorgende Amme, die weiß, welche Tröstung notwendig ist.
Franz Fühmann, Baubo („Fragmente der Orphiker“, 52)[1]in: Fühmann, →  Das Ohr der Dionysios, Nachgelassene Erzählungen, Rostock 1985

Allein diese Sprache — und ihre, in solcher Exaktheit des genauen Hinsehens, Bildkraft! Fühmann hat mich, nach → Moshe Kahns d’Arrigo, wieder erwischt, überwältigt, kurz – aus Ehrfurcht – stumm gemacht, und auch der Freund, nachdem ich ihm davon erzählt, konnte mir nur schreiben:


Das beim Tippen, weil es beim „d“ seiner Demut schon war, verlorene „d“ denken Sie, Freundin, sich als noch Akzentuierung solch angemessener Demut hinzu … — Dichtung von dieser Art habe angesichts der Massaker jede Bedeutung verloren? Im Gegenteil, um so mehr haben wir alle Not an ihr: “ … auch das sterbliche Leben hat seine Macht“, a.a.O.64, und eben dort dann weiter mit, ja, ja! Gaza vor Augen:

Dies also, dachte Baubo, müsse sie tun; der Göttin den Namen des Räubers melden, doch kaum, daß sie diesen Vorsatz gefaßt, schrak sie auch schon vor ihm zurück Es war nicht so sehr jener lautlose Anruf, daß sie ihren Plan so brüsk abschlagen hieß, es war ein Erwägen ganz anderer Art: Wenn Demeter den Namen de Räubers erfuhr, würde sie in die Unterwelt eilen oder zu Zeus auf den Olymp, da wie dort sich in zähe Händel verwickelnd, in Zwiste, Verhöre, langwierige Prozesse, und indessen starb auf der Erde das Leben, weil der Wald starb, der letzte Hüter des Grüns. Noch waren die Moose nicht vertrocknet; zerstäubten auch sie, war das Ende da. Also müßte man Demeter trösten, ohne ihr das Geschehene zu berichten, was hieß, ihr ebenden Trost vorzuenthalten, nach dem sie stumm so haltlos schrie. Aber wäre dies wirklich ein Trost, die einzige Tochter beim König der Schatten zu wissen?

           So also rettete Baubo die irdische Welt. Ohne dies würde ich heute nicht schreiben und wäre mein Sohn weder empfangen noch geboren worden. Noch würden Sie noch lieben und sich freuen können. Darum aber geht es: daß wir auf Tod und Vernichtung mit nächster Schöpfung reagieren. Auf daß die beiden schließlich nicht siegen. — Verstehen Sie, weshalb mir wieder der Mut stieg? Da kann ich erkrankt genug gar nicht sein, als daß dieses nicht geschähe. Und es muß uns erst recht, uns Deutschen, angesichts der neuen Wellen furchterregendsten Antisemitismus geschehen, dessen Unheil ja schon im eigenen Wort steckt: Semitisch sind eigentlich alle Ethnien von der Levante herunter ums Mittelmeer bis Marokko; so betrachtet, wäre Antisemit auch jemand, die oder der die Araber haßt[2]„Semitische Sprachen sprechen insbesondere Araber, Israelis, Aramäer, Malteser sowie mehrere Sprachgruppen in Äthiopien und Eritrea. Der Sammelbegriff „Semiten“ als Bezeichnung … Continue reading. Jüdische Israeli, es gibt eben auch palästinensische, sind zu einem erklecklichen Teil nicht „semitischer“, sondern „slawischer“ Abstammung, nämlich qua teilweise ganzstaatlicher Konversionen, siehe → Shlomo Sand. Es ist aber völlig egal, ob sich ein Haß gegen ein Volk oder die Menschen einer bestimmten Religion wendet, auch wenn sie selbst sich ein Volk nennen läßt und als ein solches zutiefst sich versteht. Und also „Antisemitismus“, in dieser Form in Deutschland erneut? Es ist nicht zu fassen. Bislang, in meinem Umkreis, gab es ihn nicht; ein paar verwirrte Neonazis, die aber nicht mal das waren, sich nur so nannten (oder so genannt wurden und dankbar dafür waren, endlich ihr einigend Wappen zu kriegen), sondern abgehängte Desperados ohne jede Bildung und ohne Chance, solcher Bildung teilhaftig zu werden … – ein paar solcher „Neonazis“ pflegten ihn als Nachfolgerinnen- und Nachfolger-Mob der 1938er Pogrome und der Ausschreitungen davor. Und nun aber, nach dem Meucheln und Schänden durch die Hamas, haben wir ihn wieder, hier, in Deutschland, ja in meiner Stadt Berlin, und mit solcher Gewalt? Wie soll man da denn gesundbleiben können? Doch hier auch, mit Blick auf die Thora, bei „uns“ dem Alten Testament, hilft unversehens Fühmann:

(…) das jähe Erfahren von Alternative in einer Gesellschaft, darin Alternative nicht sein darf, auch nicht im privatesten Bereich, nicht einmal in einer Zwei-Menschen-Gemeinschaft. Darum war ihr Ort auch das KZ, das einzog, was die Gesellschaft ausstieß, so eben auch David und Jonatan und solche, die sich zu ihnen bekannten. (…) Damals ahnte ich wohl zum ersten Mal das zutiefst Subversive der Erotik wie das zutiefst Subversive der Dichtung, und es konnte kein Zufall sein, daß gerade in einer Gestalt der Bibel diese Insurgenzen zusammenflossen.
Fühmann, Meine Bibel: Erfahrungen, a.a.O. 133

Und ausgerechnet ein Rilke-Gedicht, daß er als junger Wehrmachtssoldat ausgerechnet beim nun abermals geschändeten Charkiw, er nennt es noch Charkow, las, war der Anlaß,

da sah ich auf und wurde deiner inne: —

Ganz unversehens, ins Bettzeug gewickelt, schmerzender, ja brennender Gliedmaßen bekam ich auf die Bibel einen Blick, den ich zuvor nie gehabt und es gewiß gehabt haben | haben auch nicht konnte:

Daß Erwähltheit eines Volks nicht Bevorzugtheit heißt, sondern Anlegen des allerstrengsten Maßstabs, nicht Einzigkeit von Rechten, sondern von Pflichten, das ist nicht eben das gern Gehörte, und man steht mit solcher Mahnung allein. Prophet ist, wer es wagt, gegen den Strom zu schwimmen, sich mit dem Königshof anzulegen, mit der Priesterschaft, mit den Standeskollegen, mit den Wohlabenden und Einflußreichen, aber auch mit dem eigenen Volk. Und man kannte den Preis einer solchen Haltung. — „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest deine Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind“ – dieses Wort des Propheten Jesus ist im Namen all derer gesprochen, die solchen Preis entrichtet haben.
a.a.O., 139

Ich habe nachgesehen, Fühmann starb mit 62, was sollte ich da klagen? hab ihn doch, quasi, schon überlebt. Cortázar wurde siebzig, so hab ich noch ein Jahr. Doch will ich ja den Friedrich noch schreiben und auch die → Sapphogedichte, mit denen ich erstmal anfangen muß. Und sah doch meine Knochen brennen. Derweil werden Molotow-Cocktails auf jüdische Einrichtungen geworfen, und einer sagt, er trage besser eine Basecap jetzt als Kipa

           Fertigstellen, diesen Text, und dann zurück ins Bett.

ANH, 15.31 Uhr

Da er sein Verbrechen begeht, als das Notwendige, das getan werden muß, spricht er eben jenes Wort, das so tief beunruhigt: „Ich muß die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat … Es kommt die Nacht, da keiner mehr wirken kann.“
Seitdem ich das Wort kenne, läßt es mich nicht los. — Was ist die Nacht, darin keiner mehr wirken kann? (…) Was ist jene Nacht, wann hübe sie an? — Daß der Tod jedes Menschen Wirkmöglichkeit endet (nicht so[3]Wie wir an diesem meinem Text sehen, ANH das Fortwirken seines Werkes), sagt, zumindest für den Atheisten, nichts als eine Tautologie, die aber jäh an Sinn gewinnt, wenn man ihr Subjekt als Prädikat setzt: Was Schöpferkraft endet, ist der Tod, und was sie lähmt, drosselt, abbaut, ist seines Zeichens. — Man könnte in jener Nacht die Verzweiflung erblicken, für den Einzelnen ist sie das auch, doch ist sie das Verhängnis, dem keiner entgeht? — Ist ein Gesellschaftszustand denkbar, der Wirkungsohnmächtigkeit realisiert? — Er müßte

und dies ist nun wirklich (1982 geschrieben) prophetisch-selbst

das Bewußtsein computerhaft machen.
a.a.O., 147

 

 

 

References

References
1 in: Fühmann, →  Das Ohr der Dionysios, Nachgelassene Erzählungen, Rostock 1985
2 „Semitische Sprachen sprechen insbesondere Araber, IsraelisAramäerMalteser sowie mehrere Sprachgruppen in Äthiopien und Eritrea. Der Sammelbegriff „Semiten“ als Bezeichnung einer Völkerfamilie gilt inzwischen als ungenau und überholt, insbesondere auch aufgrund seiner Verwendung in rassistischen Kontexten“ ( → Wikipedia). Allerdings siehe auch → dort.
3 Wie wir an diesem meinem Text sehen, ANH

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