[Geschrieben für die Junge Welt und, unter allerdings nur begrenzt sinnigem Titel, → d a am 20. 12. 2023 erschienen. Mein Kommentar zu der Zeitungsausgabe → dort. Siehe aber auch meine an die Redaktion gemailte → Aufkündigung der Zusammenarbeit. Hier die originale Typoskriptfassung. |
Was für ein Konzert! Mögen Currentzis’ Basher doch „bashen“, der FAZke Brachmann allen so sehr voran, daß sich fast wähnen ließe, jener habe ihm die Frau ausgespannt, statt sich zum Ukrainekrieg zu äußern. Zu dem er nach wie vor ja schweigt. Doch sein Bekenntnis drückt sich in der Musik aus; nur sie ist seine Sprache. Und hat immer wieder ukrainische Komponisten auf seine Programme gesetzt. Dass er außerdem nach Beginn des Kriegs seine Punkerpose abgelegt hat, mit der er in den „klassischen“ Musikbetrieb … ja, eingebrochen war, und fast durchweg im schwarzen Anzug dirigierte, der, nicht im entferntesten Designerklamotte, nach Konfirmationsanzug aussah oder nach etwas, das wir zu Traueranlässen tragen – ja, ist das nicht ebenfalls Zeichen genug? Meines Wissens hat er auch zur Hamas nichts gesagt, ist aber schon bei Tschaikowskis Fünfter neuerlich in seine Springerstiefel rein, die er mit roten Senkeln schnürt. Und gestern, ja gestern stellte er sich vor das extrem gut disponierte Orchester in quasi Arbeitskleidung hin: kurzärmliges TShirt und schwarze, furchtbar röhrige Jeans: Heißt denn „unfinished“ nicht, es müsse jetzt wirklich gearbeitet werden? – wie Currentzis’ Dirigate durchweg ein künstlerisches Durchdringungswerk sind und nicht etwa großbürgerliche Repräsentationsshow; die haben seine Konzerte unerbittlich entsorgt. Es hat seinen Grund, daß es so auffällig viele junge Menschen sind, die ihm, muß ich schreiben, huldigen. Hier bläst mal wieder einer den Staub von Talaren.
Allerdings lehnen ihn auch so gut wie alle meine Komponistenfreunde ab; die Extreme, in die Currentzis die von ihm interpretierten Werke ständig treibt, kommen nicht immer gut an … – Werktreue gilt ihm, spüre ich, als bloßer Fetisch, der mitentsorgt werden muß. Am nächsten, glaube ich, trifft seinem interpretativen Ansatz eine Bemerkung meines Rapper-Sohns: „Er hätte die Stücke gern selber geschrieben. Und korrigiert nun ihre, aus seiner Sicht, Unzulänglichkeiten, dirigiert sie so, wie er überzeugt ist, da0ß sie hätten sein müssen und es so nun werden. Ich find das legitim.“ Ich tu es auch, vorausgesetzt, man kann mit anderen Interpretationen vergleichen. Ist nicht seinerzeit Glenn Gould mit Bach genauso umgegangen und hat sich, vor allem bei Beethovens späten Sonaten, die geradezu selben Vorwürfe anhören müssen? Wir können es aber auch so sehen: Currentzis überträgt die Methodiken des Regietheaters, die auch die Opernbühnen längst bestimmen, auf die Orchesterpraxis. Und grade bei dem vordem so gebeutelten SWR-Sinfonieorchester ist hautnah mitzuerleben, welche Begeisterung er in den Musikerinnen und Musikern entfacht, mit denen er komplett neue, teils hochexperimentelle Aufführungsmodi erschafft, indem er Kompositionen direkt miteinander verkoppelt, die ganz unabhängig voneinander entstanden sind; nicht selten trennen sie Jahrhunderte. Ich möchte nur an die „Batallia“ erinnern; → Dort können Sie sie nachsehn und -hörn. Bitte, bitte tun Sie’s auch! Denn „Mahler unFinished“, vorgestern abend in der Berliner Philharmonie, gehört genau da hinzu, gehört in dieses, wenn Sie nun unbedingt wollen, „Fomat“.
Der riesige Saal war gut gefüllt – ausverkauft leider nicht; dafür standen zu viele nicht bekannte Komponisten mit auf dem → Programm. Doch genau sie waren das eigentliche, ein wahrhaft rasendes Akustik-Abenteuer; Gustav Mahlers, wie erwartet, radikal – vor allem in der Dynamik – ausgereizte Adagio der fragmentarisch nachgelassenen Zehnten ging „nur“ voran. Die vier folgenden Kompositionen stiegen aus ihm quasi heraus, vorwiegend auf das katastrophische Moment konzentriert, das Mahlers Stück derart unheimlich macht. Wie eine Prophezeiung blieb es unabgeschlossen vier Jahre vor dem Ersten Weltkrieg liegen (Mahler starb 1911) und hat in unsern Tagen erneut die düstere Valenz. Eine freilich ins Persönliche gespiegelte Kassandra aus Klang.
Bei dieser Düsternis, ja dem Alarm setzen die Komponisten an, Mark Andre, Philippe Manoury, Alexey Retinsky und Jay Schwartz, jeder auf seine Weise, und doch, als hätte schließlich dieselbe Hand sie in Schwartzens schauriges, anfangs fast nur perkussives Pianissmo-Crescendo geführt, das immer gewaltiger, ja gewalttätig wird. Ein schärfrer Kommentar zu den Kriegen heute läßt sich gar nicht denken. Und endet trauernd im Morendo, resignierend fast. Der „Clou“ dabei: Currentzis läßt die Stücke attacca, also direkt hintereinander, spielen, ohne auch nur die Spur einer Pause; mitunter ist überhaupt nicht merken, wo eines endet, das andre beginnt. Zweimal mußte ich hochkonzentriert darauf achten, ob und wann die Musikerinnen und Musiker ihre Noten wechseln. Currenzis selbst hatte, außer dem Mahler, eine durchgehende Partitur vor sich – als wäre es wirklich ein einziges Stück. An diesem Abend war es das auch.
Wir sitzen noch erschüttert da. Selbst nach achtzig Minuten spektakulärster Musik fällt es uns schwer, gleich zu klatschen. Erstmal sich besinnen. Dann aber tost er los, der Applaus. Minutenlang, selbst ich muß meine „Bravi!“ rufen. Gehört sich das für Kritiker? Egal, komplett egal, die könn’ mich mal an der Pupe schmatzen.
Als Currentzis die Arme hebt und senkt.
In die nun Ruhe spricht er hinein: Es stehe nicht auf dem Programm, doch werde noch etwas gespielt: „So I propose now to have a litte break, have a drink and come and listen to a very important opus for me, the Lyric Suite from Alban Berg.“
Getränke gab es aber nicht, selbst draußen war niemand vorbereitet, alles tatsächlich spontan, bzw. geheimgehalten; die Zeit bis zum Gong hätt sowieso für einen Espresso kaum gereicht. Da standen sie schon da, Maxim Kosinov, Vivica Percy, Raphael Sachs und Frank-Michael Guthmann, und fingen an, zauberisch zu spielen, und miteinander. Unheimlich aber auch dies, flatternde, wehende Tongespenster auf einer wehen Melodie.
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ANH, 19. Dezember 2023
Berlin
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Siehe ebenso:
ANH zu Teodor Currentis Mahler V dort → bei Faustkultur.
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→ D o r t :
Ein bißchen was hat man mir aber d o c h gestrichen. Mein erster Absatz begann nämlich s o:
Daß meine direkte Attacke auf Jan Brachmann (einen, als Journalist, Kollegen immerhin) Opfer des Redigierstifts wurde, – geschenkt. Auch wenn er gegenüber Currentzis ein schlimmer Finger → tatsächlich ist. Doch den von mir gemeinten Krieg nicht klar zu benennen, geht auf die Kappe proputinscher Ideologie. Da bin ich froh, Die Dschungel zu haben, die nun einer Aufklärung ganz anderer Art dient als meine eigentliche Erzählung zu der Musik.
Übrigens lautete auch mein Titel anders; der jetzige, allerdings schöne, von der Redaktion läßt sich lediglich auf die Zugabe beziehen, die den Konzertabend abschloß, nämlich Alban Bergs Lyrische Suite. Wie i c h aber getitelt habe, erfahren Sie, wenn ich meinen Text hier in Der Dschungel übernehmen werde; jetzt verrat ich es noch nicht. — Und nicht ohne Komik das Bild von Currentzis, das die Zeitung wählte: in genau d e m Konfirmationsanzug, den er nun eben nicht mehr trug:
ANH
20. 12. 23, 8.04 Uhr
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NACHTRAG 1, 14.50 Uhr
Hier, stellt‘ ich grad fest, hat der Setzer leider ein satzbauwichtiges Komma vergessen:
Dass Currentzis nach Beginn des Kriegs seine Punkerpose abgelegt hat, mit der er
in den »klassischen« Musikbetrieb ja eingebrochen war , und fast durchweg
im schwarzen Anzug dirigierte …
Mal sehen, ob ich n o c h was finde.
NACHTRAG 2, 21.12.:
Weil ich’s grad las: Ein vortrefflicher Text, dessen Links Sie auch folgen sollten, von → Albrecht Selge zu dem Konzert.
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