Òρχήστρα. Sappholieder, 5. Im Arbeitsjournal des Sonntags, den 31. Dezember 2023: Fragment 24 b, erster Versuch.

 

[Arbeitswohnung, 12.50 Uhr
Strauss, Arabella (Kiri te Kanawa, Vinyl-LP)]

         So hab ich denn tatsächlich begonnen und heute vormittag bereits das zweite Gedicht Sapphos, ich schreibe mal, „nachgestellt“, was einerseits weniger knifflig als das erste, → dort, war. Denn vom Fragment 24b, bei mir nun einer zweiten Gedichtstrophe, ist tatsächlich nur ein Wort, und nicht mal ganz, erhalten; → Bierl hat es so übersetzt: „… gefal(len?) …; es sollte also nicht am Anfang und nicht am Ende des Verses stehen. Und sehr wahrscheinlich, wenn wir gefallen tatsächlich annehmen, ist es im Sinn von „jemandem gefallen“ gemeint oder daß jemand Sappho gefallen; ich statt dessen nehme „fallen“ als das, was momentan so vielen Kriegern widerfährt. Daraus ergab sich geradezu organisch das „walkürnen Lippen“; bekanntlich lesen die Walküren die Gefallenen vom Schlachtfeld auf und geleiten sie nach Walhall. Selbstverständlich geht es bei Sappho nicht um einen wirklichen Krieg, um den Kampf der Geschlechter aber sehr wohl. Diese Linie gibt das erste Gedicht bereits vor Und da, wie Bierl im Kommentar schreibt, die gesamte Nr. 24 mit der Polis in Verbindung zu stehen scheint, also mit dem öffentlichen Gesellschaftsleben, lag es bei diesem 24b nahe, es in einem, sagen wir, Festsaal spielen zu lassen, in dem Sappho die wahrscheinlich aphrodisierendste Erscheinung war — wessen sie sich nicht nur deshalb bewußt ist, weil die gesamte Nr. 24 aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückschaut, Sappho also unterdessen gealtert oder gar wirklich schon alt ist. Daraus ergeben sich die drei ersten „War“-Verse. Sie, Sappho, sieht also erst sich als noch junge Frau, die sie soeben spürt, ständig angeschaut zu werden, und zwar sowohl offen als auch verstohlen. Letzteres verachtet sie; es kommen solche Männer und Frauen für sie nicht infrage, „die sind für mich gestorben“. Doch auch den offenen Bewunderern begegnet sie mit klarem Blick. Und zieht den Stolz zwischen die anderen und sich. Den muß überwinden, wer es aufnimmt mit ihr; das Rot ihrer Lippen ist eine Warnung.
Sie sehen also, Freundin, daß andererseits die mir gelassene Freiheit es mir ganz besonders knifflig gemacht hat. Doch lesen Sie selbst:

 

War noch schwarz, mein Haar, das ich gerne hochband
War noch schmal, der Hüftgurt um meine Taille
War noch scharf, der Blick meiner grünen Augen,
der sich nie senkte,

wenn mich jemand ansah, ob offen oder
weibisch wie verdruckst in dem Durst auf meinen
warmen Mund, doch längst schon gefallen dem Warnrot
walkürner Lippen.

 

          So weit, so, leidlich freilich, fein. Nur bin ich mir unsicher, ob ich das „weibisch“ verwenden kann, bzw. sollte, hier sperrt sich mal mein Gender-Herz. Andererseits trifft die Aura dieses überaus kräftigen Wortes[1]Freilich läßt sich von einem „Kraftausdruck“ noch nicht sprechen. sehr genau ihr Ziel; ohnedies dürfen „weibisch“ und „weiblich“ nicht für eins genommen werden; „weiblich“ ist ganz sicher eine soziale Konstruktion und deshalb Veränderungen unterworfen, „weibisch“ aber nicht. Und dann schwanke ich noch wegen des „Warnrots“; zuerst hatte ich „Wahnrot“ da stehen, was auf den Liebeswahn verwiese. Fand „Warnrot“ schließlich besser, weil es noch einmal die Stärke dieser Frau betont. Und noch unsicherer bin ich mit den doch ziemlich manierierten „walkürnen Lippen“; möglicherweise entscheide ich mich für „weiblicher Lippen“, weil ich so „weibisch“ und „weiblich“ sehr deutlich differenziere: Das Weibliche steht für (innere wie äußere) Stärke, das Weibische ist feig. Ich könnte aber auch hier den Adonisvers mit einem „d“ beginnen lassen, wie schon die Strophe darüber tat. Dann stünden mir eine ganze Reihe völlig anderer Adjektive zur Verfügung, und ich könnte den Manierismus vermeiden.
Doch ist’s ja eh nur der erste Versuch.

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Sappholieder 4

[16.11 Uhr]

          Silvester also heut. लक्ष्मी ist mit den Zwillingen für deren Geburtstag, 28.12.m für drei Tage nach Catania geflogen, wo sie klasse Tage mit hinreißenden Aussichten verbracht haben, und wird heute nacht zurückkehren. Vom Flughafen abgeholt werden, was ich gern getan hätte, mochte sie nicht; die drei haben auch nur Handgepäck dabei. Also werden wir uns bei einem ihrer guten, mir entfernteren Freunde treffen; ich denke mal, daß sie gegen halb elf/elf dortsein wird. Ich meinerseits werde vorher bei Freund Broßmann, seiner Gefährtin und beider Baby sein. Seltsamerweise hat mich dieses Jahr die Vorstellung ein bißchen gegraust, den Abend allein zu verbringen; normalerweise ist mir, seit die Kinder nicht mehr klein sind, Silvester ziemlich egal; mein großer Sohn ist eh auf Achse. Ein Kracherfreund bin ich, wie Sie wissen, auch nicht; sogar das kleine Ritual, für jedes Familienmitglied eine Rakete gen Himmel zu schießen, hat an Bedeutung längst verloren. Und dennoch, alleine hier? nee, mochte ich nicht sein.

          So schau ich mir jetzt mal Sapphos 24c an und guck, ob ich n o c h was zuwegebringe, bevor ich gegen sieben zu Sascha hinüberspazier.

         Ihr ANH

„Sie wollen mich heiraten? Haben Sie denn eine Ahnung, wer ich bin?“
Kiri te Kanawas Arabella soeben:
wieder solch ein poetisch-hofmannsthalsches Wunderwerk

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References

References
1 Freilich läßt sich von einem „Kraftausdruck“ noch nicht sprechen.

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