Das auf den LehrauftragsSonnabendzurückschaujournal des Sonntags, den 14. Januar 2024: Poetenpädagogik.

[9.02 Uhr
ICE 602 Bamberg Berlin]

           Zehn Studentinnen und ein Student waren von den zweiundzwanzig anwesend, die sich angemeldet haben; möglicherweise kommen von denen, die fehlten, am kommenden Wochenende noch welche hinzu. Doch schon mit diesen elfen (Elfen?, lach – bei einer, aber mit „b“, → stimmt es) war die Arbeit höchst intensiv, wobei auch viel, sehr viel gelacht wurde. Ich konnte die Anforderungen von Stunde zu Stunde steigern; erst am Abend klagte eine einzige Teilnehmerin, daß sie nun wirklich erschöpft und die letzte Stunde ihr nicht leichtgefallen sei. Mein Gegenvorschlag: Wann immer jemand meine, an die Leistungsgrenze zu kommen, das Seminar einfach verlassen und eine halbe Stunde spazieren gehen; nach Rückkehr fingen wir anderen den oder die jeweiligen Teilnehmerin und Teilnehmer ganz sicher auf; fast körperlich ließ sich da die Erleichterung fühlen. „Es ist mit dem Geist“ sagte ich, „wie bei sportlichem Training; seine Kondition läßt sich mehr und mehr steigern; irgendwann brauchen Sie die Beanspruchung dann, es ist dann fast wie Sucht.“
Also genau der Gegenentwurf zum pädagogischen, nun jà, „Konzept“, „die Klasse beim schwächsten Glied abzuholen“, sondern alle von den Stärksten mitziehen lassen — bei aber gleichzeitig bedarfgerecht gelockerten Vorgaben. Die Freiheit jeder und jedes Einzelnen betonen, Freiwilligkeit betonen, hier dabeizusein und eben spüren lassen, wie nicht-dabei-zu-sein/sein-zu-können schade ist, fast ein Grund, um traurig zu sein. Erste → Bamberger Elegie:

Wer lehrt, der verwandle, wie Kinder die Dinge, den Kindern die Welt. So taten‘s Europa und Orient, der Morgen des Abends, seit je: da haben sich Wis­sen und Mythen verpaart, haben wilde, erhobene und, sagt’ ich, geile Geschöpfe erliebt, die was ist durch was sei nicht ersetzten, doch aber verklärten. Und das soll nun fortgehn? Wie stehn wir denn da als so ausgeleerte Gelehrte? Das möglich Mögliche nicht, sondern unmöglich Mögliches hat uns, Frau G., reich werden lassen. Der Tisch wird zum Raumschiff, ein Becher wird Gral. In Bäumen verbergen sich Türen, und nichts ist nur es. So ist die Sprache. Ein Jedes hat Teil an etwas und etwas an ihm. Kabbala, Eckhart, die Thora. Die Liebeslegenden. Alles dieselbe Bewegung. Ein Blicken von Liebhabern, so sehn wir Sterne und sehen die Wiese. Wir sehen das Meer so. Das müssen Kinder bewahren, die lernen. Und Sie, für sich selber, müssen es sich, das Verlorne, zurückholn. Frau G., das erwart ich von Ihnen. Was wahrer als faktische Wahrheit, per scola non sed vita, ist. Jeder Mensch lehre, wie wenn er küßt.

Jedenfalls steigerte sich, nachdem ich ein paar zehn Minuten lang allgemein zu Kunst und Formen und Formung gesprochen hatte („Schauen Sie sich den Daktylos an, was i s t denn das für ein Takt? — und haben wir nicht sogar im Deutschen das Wort? – welches?), der Anspruch jeder Schreibaufgabe, die ich fortan gab, mehr und mehr und mehr — bis ich zum Schluß des Seminartags, als ich die Hausaufgabe stellte, ein wenig das Gefühl hatte, übergriffig zu werden, psychisch übergriffig. Doch niemand sprach gegen sie. Ich bin wirklich sehr gespannt, wie die fast durchweg sehr jungen Menschen sie lösen werden, werde meinerseits zusätzliche, nicht bezahlte Arbeit mit hineinstecken, nämlich mir jeden dieser Texte zuschicken lassen, um jeden professionell zu lektorieren. Für solche Detailarbeit ist in den Seminaren-selbst keine Zeit; sollten es noch mehr als die jetzigen zehn Teilnehmerinnen und der eine Teilnehmer werden, dann eh nicht.
Was es für eine Aufgabe s e i, fragen Sie? — Gleich, Freundin, gleich. Erstmal die Textverlangen zuvor:

1. Bitte schreiben Sie über eine Szene Ihres Lebens, wobei es keine Rolle spielt, ob sie tatsächlich geschah oder erfunden, bzw. teilerfunden ist.

Schon jetzt gab es erstaunliche Ergebnisse. Zur Vorbereitung auf Nr. 2 eine kleine Tour de force durch die Genres, als welche Romane auftrete können (Brief[Mail-]roman, historischer, phantastischer (dazu auch Fantasy), Kriminalroman, Thriller, Science Fiction usw.). (Ich brauche auf Flipcharts immer sehr viel Papier.)

2. Bitte erzählen Sie nun dieselbe Szene in einem anderen Genre.

Komplett irre auch hier, was bei diesen Transponationen herauskam; der gleichsam Perspektivwechsel führte unmittelbar zu teils völlig neuen Erkenntnissen, sorgte aber vor allem für die der Kunstschaffung so nötige Distanzierung. (Ich darf beim nächsten Mal auf keinen Fall vergessen, über den Gegenstand der Künste als ein Material zu sprechen, auch und vielleicht sogar gerade dann, wenn, wie in Autobiographien, frau und man selbst dieser Gegenstand ist). (Entscheidungsfrage schon, ob autark oder subjektiv erzählt wird.)

Ich erzähle von Flaubert und dem Kohlkopf, um also die nächste Aufgabe zu stellen:

3. Beschreiben Sie entweder das Gesicht einer oder eines der Anwesenden oder – Ihre linke Hand. „Aber ich warne Sie, es ist dies alles andere als leicht, ist sogar — sauschwer.“

Die Ergebnisse straften mich geradezu Lügen. Eine Teilnehmerin schrieb sogar mit einem solch präzisen Blick, daß er sich fast unbarmherzig nennen ließe — jedenfalls indem sie ihn, wann auch in unserm kleinen Kreis nur, öffentlich machte. So etwas braucht nicht nur einen sehr klaren Blick, sondern kostet auch persönlichen Mut. Ich konnte einfach nur „Hochachtung“ sagen. Eben ein solcher Blick ist geradezu eine Grundbedingung des literarischen Schreibens, und ganz besonders im autobiografischen. Wobei es übrigens keine Rolle spielt, ob eine Auto(r)biographie fiktiv durchsetzt oder poetisch verstellt ist. Vor allem ist diese Art „Verstellung“ hier ganz besonders ein Thema dieses Lehrauftrags. Noch freilich nähern wir uns  „Möglichkeiten“-Konstruktionen erst an. Am kommenden Sonnabend werde ich darauf auch ästhetiktheoretisch/spekulativ eingehen, allerdings denke ich, nachmittags erst.

           Zwei kleine Trainings-, gut, eher Spielaufgaben, die ich aus den leider längst letzten → START-Seminaren übernahm[1]Konzept von Phyllis Kiehl: Ein Glas Wasser läßt sich im Reisebüro beraten, wo es am besten seine Ferien verbringen könne — die Reisekauffrau muß da wirklich Ideen haben …, lockerten den Nachmittag auf, eine Studentin, als ich draußen in einer Fünfminutenpause paar Pfeifenzüge nahm, spendierte mir einen Cappuccino, eine zweite sprach mich auf die Tattoos an, an denen ich nach wie vor herumforme, indem ich die schon gestochenen Motive um Hautmalereien ergänze, alle einzwei Wochen erneuert und je fotografiert, um später mit Elena, „meiner“ Tätowierartistin[2]Deren Technik das Vorbild für die Tätowierszenen meiner geplanten Yōsei/Horu-Shi—Novelle sein wird., aus den Bildern diejenige Gestaltung herauszufiltern, die nun realisiert werden soll. So erzählte ich es auch; abends, im Gespräch mit dem wie mein Sohn heute vierundzwanzigjährigen Sohn meiner Gastgeberin Christinewiederum er | war 2006, als ich mein Jahr in der Concordia lebte — mit meinem Sohn eng befreundet … abends also kam auch dieses Gespräch auf die Tattoos. Nach wie vor sind sie ein Türöffner über ganze Generationen hinweg; schon deshalb habe ich meine Entscheidung nie bereut; wie Sie, Freundin, wissen, war ich in gesünderen Jahren ein entschiedener Gegner dieser Körperkunst.
Nun, der Blick hat sich gewandelt. Und darum, die eigenen Blicke, Urteilsblicke also,
zu veränderngenau darum geht es auch in diesem Seminar. Wohin wir sie allerdings richten, und wie, hängt von den Texten ab, die unter unseren Händen entstehen, im Idealfall im selben Moment, da wir sie denken und also nicht schnell noch Verdrängungs- oder sonstige Abwehrpalisaden hochziehen können. Sich dem Fluß überlassen und damit einer gewissen Ent-ich-ung, deren Schutzraum die Form ist, seien es Metren, seien es Klangfolgen, seien’s Reim- und Alliterationsschemata. Imgrunde ist es das, was ich lehre. Ich kann’s, weil ich selbst so lebe, nahezu immer gelebt habe.
Andererseits dachte ich auf dem Fußweg zum Bahnhof darüber nach, ob mein Feuer, das sich in der Lehre immer überträgt, nicht eine unstatthafte Forderung ist, wenn ich es auch bei Kolleginnen und Kollegen erwarte. Denn meine Lehre unterliegt keiner Routine, die abschleifen und gar müde machen könnte. Es gibt quasi keine Wiederholungen, wenn man nur für vier Mal pro Jahr an solch ein Institut berufen wird. Außerdem stecke ich nicht in den administrativen und ganz, ganz sicher nervenden Belangen und bürokratischen Notwendigkeiten solcher Lehranstalten. Sondern ich bin ganz einfach frei. Böse gesagt, spiele ich genau das aus, und genau das kommt bei den Studentinnen und Studenten so gut an; sie dürfen selber brennen, wo sie sonst in Regularien gepreßt sind. Ich mache mir auch keine Illusionen darüber, daß ich, sollte wider Erwarten doch mal ein länger währender Ruf an mich erfolgen, der Ruf sehr lange gar nicht währen, sondern man – nachvollziehbarerweise – sehr schnell versuchen wird, mich wieder loszuwerden. Es wäre nicht zum ersten Mal. Selbst die START-Stiftung [3]Die jetzt von „Empowerment“ spricht, wo sich’s einfach deutsch von „Befähigung“, „Selbstermächtigung“, geistiger Stärkung sprechen ließe. hat mich, und Frau Kiehl, geschasst, nämlich insgesamt das Lehrsegment kreativer Sprachverwendung. Und das Leipziger Literaturinstitut, unter → Haslinger, ist offenbar entsetzt gewesen, als einige Studentinnen und Studenten darum einkommen waren, mich als Lehrkraft zu berufen. Die „Realisten“ dort dürften bloß die Hände überm Kopf zusammengeschlagen haben, anstelle ihr „‚παγε, σατανᾶ!“ auch öffentlich zu rufen.

          Sei’s drum. Jetzt also die, nun jà, Hausaufgabe:

4. Erzählen Sie Ihre eigene Geburt. Recherchieren Sie vorher aber, um genau wieviel Uhr Sie, und wo, geboren wurden. Sowie, was dies astrologisch bedeutet. „Nein, Sie müssen sowas gar nicht glauben, aber denken Sie dran, daß gewiß einige Ihrer Leserinnen und Leser es tun. Und selbst, wenn nicht, es gibt“ — kurzer Exkurs — „eine Realitätskraft der Fiktionen. Nutzen Sie sie. Sprechen Sie auch mit Ihren Eltern. Schauen Sie nach Indizien, ob sie ein gewolltes oder nichtgewolltes Kind gewesen sind; ich weiß, das kann sehr schmerzhaft sein. Dann machen Sie sich ein Bild von den zeitgleichen historischen Geschehen, Politik, Kriege, Katastrophen, Wunder. Und erst, wenn Sie von all dem ein Bild haben, beginnen Sie zu schreiben. Nichts von dem, was Sie unterdessen erfahren haben, muß in dem Text expressis verbis enthalten sein. Aber glauben Sie mir, daß es in ihn hinein-, aus ihm herausstrahlen wird; stellen Sie es sich wie eine Hintergrund-Aura vor. Und wenn Sie Ihren Text fertig haben, mailen Sie ihn mir; ich werde jeden professionell lektorieren und Sie danach fragen, ob Sie ihn im Plenum vorstellen oder lieber als Intimum behandelt wissen möchten.

Mein Angebot ist selbstverständlich zusätzliche, unbezahlte Arbeit. Doch ich halte sie für nötig, weil tatsächliche, in einer Gruppe vorgeführte Lektorate von voraussichtlich elf verschiedenen Texten mindestens einen kompletten Seminartag kosten würden; diese Zeit haben wir nicht, wenn wir aus diesem Lehrauftrag das Höchstmaß an kreativer Erkenntnis herausholen wollen. Auch hier bin ich selbstverständlich privilegiert; ein „normaler“, auf Dauer fest angestellter Lehrer könnte sich dergleichen objektiv nicht leisten; er hat ja ganze Jahrgänge zu unterrichten, nicht allein ein knappes Dutzend junger Menschen. Allerdings halte ich gerade diesen „realistischen“ Umstand für einen entscheidenden Grund dafür, möglichst viele Lehrbeauftragte an die Uni zu holen — im Interesse eben der Studierenden[4]Ein Begriff, den ich für üblich meide, der hier aber trifft — indessen eine Studentin auch jemand sein kann, die grad in der Kneipe ein Bier trinkt unf mit ihrer Freundin deren Liebesgeschichte … Continue reading.

           Ich kann Ihnen, Freundin, gar nicht sagen, wie gespannt ich auf die Texte bin, die nun, im Verlauf der Woche, bei mir eingehen werden. Nach allem, was ich bisher hörte, können durchaus Dichtungen darunter sein – zumindest partiell. Was eigentlich das größte Geschenk ist, das einem lehrenden Dichter von Schülerinnen und Schülern gemacht werden kann.

 

Ihr ANH


[Arbeitswohnung, 16.36 Uhr
Możdżer/Bałdych, → Passacaglia]

P.S.:
Die Löwin, gestern im Videocall, sprach von pädagogischem Eros. – Veni, Creator spiritus! Veni ut impleas me.








 

References

References
1 Konzept von Phyllis Kiehl: Ein Glas Wasser läßt sich im Reisebüro beraten, wo es am besten seine Ferien verbringen könne — die Reisekauffrau muß da wirklich Ideen haben …
2 Deren Technik das Vorbild für die Tätowierszenen meiner geplanten Yōsei/Horu-Shi—Novelle sein wird.
3 Die jetzt von „Empowerment“ spricht, wo sich’s einfach deutsch von „Befähigung“, „Selbstermächtigung“, geistiger Stärkung sprechen ließe.
4 Ein Begriff, den ich für üblich meide, der hier aber trifft — indessen eine Studentin auch jemand sein kann, die grad in der Kneipe ein Bier trinkt unf mit ihrer Freundin deren Liebesgeschichte bespricht.

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