Wenn etwas kein Gedicht ist,

dann ist es kein Gedicht.

Es kann aber sehr wohl ein guter Text sein, ja sogar der Dichtkunst einer, zu der eben Prosa a u c h gehört (gehören kann: sofern sie denn gut ist). Ein Gedicht zu einem Gedicht macht die F o r m (Metrik, Rhythmik, Alliterationen, Vokal- & Konsonantenreihungen, Reime  usw.), nicht die Semantik; auch besonders gelungene Metaphoriken („Bilder“) genügen nicht; in Lobo Antunes‚ Romanen finden wir TausendundEineNächte davon, grandiose sehr oft, ohne daß er seinen Text jetzt „Gedicht“ nennen würde. Die Zeilenbrüche täuschen meist, wenn sie nicht sogar betrügen.
Was geschieht, wenn ich die Zeilenbrüche eliminiere und alle Verse in Prosaform setze? Ergibt sich ein ungestört durchlaufender Prosatext, ist es in aller Regel kein Gedicht, selbst wenn es so genannt und gar gehypt und dann — ecco! — so gehandelt wird. Es kann aber ein hervorragendes Prosagedicht sein (deshalb gibt es diese Form), auch ein künstlerischer Aphorismus oder das, was Kafka „Betrachtungen“ nannte. Doch in aller Regel kommt nur ein Text dabei heraus, dessen Mittelmäßig-, wenn nicht sogar Dürftigkeit allein der Zeilenbruch zum Gedicht nobilitiert hat. Nun geht der Dichter nackt, die Dichterin sogar, doch alle bewundern die Kleidung dieser beiden.

ANH, 21. 1. 2024
Abends

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Poetologie

P.S.:
Übersetzerinnen und Übersetzer etwa, die nicht-deutsche Gedichte, die gereimt sind, ungereimt übersetzen, machen sich an dieser Art Betrug mitschuldig und verfälschen sogar die Literaturgeschichte. Denn beeinflußt von solchen Übertragungen, versuchen deutsche Dichter — eigentlich komplett legitim —, die Formen der anderen nachzuformen und nehmen aber an, die Modernität des „freien Verses“ sei dort schon vorgeprägt gewesen, auch wenn es das eben nicht ist. Auf diese Weise wird die poetische Geschichte geklittert und etwas als Norm genommen, das es nie war. Dennoch wird daraus die poetische Berechtigung des eignen Gedichtes gezogen und schließlich so an Akademien und Universitäten auch gelehrt.

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