Das Arbeitsjournal des Montags, den 29. Januar 2024. Mit Rückblick auf den dritten Bamberger Lehrauftragssonnabend, bahnstreikbegründet diesmal in Zoom. Norbert W. Schlinkerts Blogbuch und Sappholieder 11 darin. Außerdem Rumiz‘ Europa, Zitate 2.

[Arbeitswohnung, 10.16 Uhr]
           Schlinkerts gestrigem Geburtstagsbrunches wegen noch nicht so richtig arbeitsfähig; am „Brunch“ an sich liegt’s aber nicht — doch gab es gute Whiskys … Sie und meine Raucherei selbstverständlich bescherten mir, von draus‘ vom Walde komm ich her, eine schwierige Nacht. (Nulla dies sine linea, ff). Klar, daß ich immer noch nicht essen kann, also heute, und dummdas. Aber na gut; ich komm schon wieder auf die 70. Bin auf 68,8 runter, innert eines Tages, und warte auf Freund Broßmann, der etwas bei mir ausdrucken möchte und wohl muß. Wollte er schon gestern, doch da, wie erzählt, trank ich bei Schlinkert die Whiskies — als ich noch gar nicht wußte, daß ein Teil seiner Prenzlauer Berge als Buch erschienen sind. Hiermit sei’s schon mal → beworben.
Gute Gespräche waren es an diesem Sonntag; zu arbeiten, freilich, fiel flach. Und heute geht’s halt nur langsam. Immerhin habe ich gestern den Entwurf einer Nachdichtung des ersten Verses von Sapphos No 1 hinbekommen (also nicht einer, wie es das gesamte Buch füllen soll, metrumtreuen „Ergänzung“ vermittels eigener Worte):

Bierl (interlinear) Metrik ANH
Buntblumiggewirkte, unsterbliche Aphrodite,
Mädchen des Zeus, Listenflechtende, ich flehe dich an,
bezwinge mir nicht mit Ekeldrangsal und quälendem Kummer,

Herrin, mein Gemüt
—◡|—◡ | —◡◡ |—◡| —◡
—◡|—◡ | —◡◡ |—◡| —◡
—◡|—◡ | —◡◡ |—◡| —◡
—◡◡ |—◡
Blům[1]Nach → Grimm, aber wirklich zufrieden bin ich damit noch nicht. ANHumrankt-unsterbliche Aphrodite,
Zeuskind, listenflechtende Frouw’, erhör mich!
Laß nicht zu, daß Kummer und Drangsal, Herrin,
Herzleid mir antun

An solch einer Strophe sitze ich nicht stunden-, nein tagelang, das „blumenumwirkte“ bereitet mir Probleme bis jetzt. Siehe auch, also zu ποικιλόθρον, die → Anmerkungen der Wikipedia. Da ich, des Altgriechischen nicht mächtig, nicht beurteilen, ja nicht mal ungefähr einschätzen kann, welche Übertragung die „richtigste“ ist, verlasse ich mich erstmal auf Bierl; doch immerhin liest Jost Eickmeyer „gegen“.

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Sappholieder 10

          Also der Sonnabend.
      Es war schon richtig, nicht den Zug nach Bamberg genommen zu haben, sondern das Seminar in Zoom abzuhalten. Morgen erreicht mich die DB-Nachricht, ich würde den ICE, der wegen des Streiks in Bamberg nicht hielt, in Erlangen nicht mehr erreichen, weil der Regio dorthin ausfallen werde. Dann hätte ich Ewigkeiten warten müssen und ohne Sicherheit, überhaupt noch weiterzu kommen. Auch seitens einiger Studentinnen war für Zoom optiert worden. Daß meine bereits gebuchten Tickets nicht mehr stornierbar waren, war kein Problem; die Uni sagte zu, die Kosten dennoch zu erstatten.
Vier Teilnehmerinnen fehlten aber; zwei von ihnen hatten sich entschuldigt, von den beiden anderen hörte ich nichts. Erst gegen Ende des Tages wurde mir klar, woran es gelegen haben konnte: „Ich hatte s c h o n ein bißchen Bammel vor acht Stunden unentwegten Zooms“, erklärte eine Studentin. „Nie hätte ich gedacht, daß auch online die Zeit derart dahinrast.“ Es macht sich deutlich bemerkbar, daß ich langjährige Chat-Erfahrungen habe, die sich hier bestens einsetzen lassen; hinzukommt, daß ich über drei Bildschirme arbeite, die es mir erlauben, die gesamte Gruppe auch dann im Blick zu behalten und gegebenenfalls intervenieren zu können, wenn wir zur gemeinsamen Bearbeitung Dokumente teilen — in meinem, nun jà, Cockpit geschieht das auf dem Laptop. Außerdem kann ich so schnell über Links auf andere Texte gehen und sie, wenn erforderlich, online einblenden. Nicht die multi-tasking-Fähigkeit, sondern der permanente multi-tasking-Zustand des ADHSlers kommt mir obendrein zugute. Allerdings muß ich dabei, wie ich nachher Christoph Jürgensen schrieb, aufpassen, meine Studierenden nicht zu überfordern, einige teilen meine Schnelligkeit nicht, die mitunter zu nicht nachvollziehbaren Sprüngen führt. „Bitte sagen Sie sofort Bescheid, wenn Ihnen etwas nicht einleuchtet.“ Auf dieser Basis macht der Unterricht allen Spaß.

           Wir fingen gleich mit einer Aufgabe an, nachdem ich kurz nochmal → auf die Geburtstexte eingegangen war:

        1. Erzählen Sie die Geburtsszene aus sich des zur Welt kommenden Babys; denken Sie daran, daß es noch keine Sprache hat und konzentrieren Sie sich also auf die Sinneswahrnehmungen, die solch ein Geschöpf haben kann und wird. Hier bietet sich tatsächlich der stream of consciousness an, den wir während der letzten Sitzung einstudiert haben. Aber selbstverständlich können Sie auch einen anderen Zugang wählen; denken Sie an die verschiedenen Roman-Genres.

Erstaunlich schon, was hierbei herauskam, welche Ideen einige hatten. — Wegen der Kürze der Zeit bekommen wir selbstverständlich fast immer nur die Anfänge solcher Erzählungen hin; dennoch, manche waren von blitzender Originalität.
Wir sprachen jeden einzelnen durch, brauchten diesmal keinen Overhead-Projektor dabei, sondern konnten mit geteilten Dokumenten arbeiten. Didaktisch ist Zoom hier in deutlichem Vorteil.
Fünfminutenpause, den Kopf in die frische Luft strecken, die Arme und Beine ausbaumeln lassen. Wer brennen will, braucht Sauerstoff, für Ideen gilt das besonders.

2. Bitte erzählen Sie die erste Begegnung mit ihrer Traumpartnerin, Ihrem Traumpartner.

Gefährliche Aufgabe; sie läßt einen sehr schnell allzu persönlich werden, was meistens zu Kitsch führt. Woher beziehe ich die erzählnötige Distanz? Einfach nur ironisch zu erzählen, ist uneigentlich, führt uns nicht weiter, rückt die Geschehen von uns und, als Erzähltes, eben auch von den Leserinnen und Lesern weg. Das genau darf nicht passieren. Und also:

3. Jetzt erzählen Sie bitte die gleiche Geschichte, aber aus der Sicht des Traumpartners, der Traumpartnerin.

Nicht nur die Studentinnen und Studenten waren erstaunt („fürbaß!“), welch unvermutete Volten sich ergaben, und zwar gerade auch dann, wenn die Szenerien direkt aneinander anschlossen. Eine Studentin, in deren ersten Geburtstext (die „Hausaufgabe“ also) mein Lektorat ziemlich heftig hineingekritzelt hatte, gelang ein geradezu S p r u n g des Niveaus, auch und gerade im Distanzierungsmodus, der jetzt – für mich völlig unversehens – zu einer ganz besonderen Betonung von Nähe führt, und zwar literarästhetisch. Was war ich, Freundin, da glücklich!
Nebenbei vermittle ich während der Seminartage auch Grammatik und Idiomatik, aber so, daß es kaum spürbar ist. Lernen im Nebenbei. Und muß mich selbst ständig prüfen, sonst funktioniert es nicht. Es braucht ein gemeinsames Lernen, das sich lediglich im Niveau, mithin in der verschiedenen Vorbildung und dem Wissen unterscheidet, das wir jeweils schon mitbringen. Bisweilen ähnelt es sich allenfalls; von einer konsistenten Gruppe läßt sich’s nicht ausgehen. Was Nachteile hat, doch auch Chancen bietet, die auf keinen Fall unterschätzt werden sollten, zumal sie für die Freude an den Seminaren mit maßgeblich sind. Wir brauchen Differenzen, wenn wir einander etwas weitergeben wollen — auch etwas, was in fast allen Correctness-Ideologien unter den Tisch fällt und nur aufgelesen werden kann, wenn wir uns ganz nach unten bücken:

Auf Erden habe ich nirgends ein auch nicht annähernd so faszinierendes Konglomerat, geprägt von solcher Vielfalt, gefunden wie [, Europa,] dich. (…) Darum habe ich diesen Canto, diesen Gesang, geschrieben: Ich wollte eine neue Art Erzählung entwerfen, andocken an die Gründungssage, eine Epopöe wiederbeleben, mächtiger und geschichtsträchtiger als die der Gründerväter, und einen europäischen Patriotismus initiieren, der dem Abdriften in Richtung Entleibung Paroli bieten kann.
Paolo Rumiz, Europa . Ein Gesang, Nachwort
(Dtsch. von Maria E. Brunner)

Der Entleibung Paroli bieten. Gibt es einen besseren Schlußsatz?

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Rumiz, Europa, Zitate 1

           Ihr ANH
                         18.07 Uhr

References

References
1 Nach → Grimm, aber wirklich zufrieden bin ich damit noch nicht. ANH

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