Waldtraut Lewin. Ein Vorschlag an den Tagesspiegel-Checkpoint.

         Bin – nachdem ich’s schon von ihrem Friedrichroman gewesen – derart hin und weg von → diesem Buch (es ist skandalöserweise nur noch antiquarisch erhältlich),

daß ich nicht nur dringend willens bin, über Lewins Dichtungen einen gesonderten Essay zu schreiben (das Wort „Rezensionen“ griffe zu kurz),

sondern, als ich grad diese sozusagen Aufforderung las:

 


 

— … sondern sofort an die Redaktion schrieb und meine Mail auch schon versendet habe:

Guten Morgen,
Sie sammeln, las ich soeben, Vorschläge für neue Straßenbenennungen. Ich schlage eine der wirklich großen Romandichterinnen nicht nur der einstigen DDR, sondern der deutschen Sprache überhaupt vor:
Waldtraut Lewin, 1938 bis 2017. An stilistischer Eleganz und Geschmeidigkeit kommen ihr wenige und wenigInnen gleich, vor allem auch an Schönheit der Sprache. Sie verdeckt ein wenig die diese tatsächlich überhaupt erst ermöglichende Virtuosität etwa unvermittelter Perspektivwechsel, die zudem unmittelbar sinnlich wirken: Beim Lesen gleiten wir von einem Kopf in den anderen, ja in einen dritten sogar – und wieder zurück. Alles unaufgeregt, voller Leichtigkeit, nicht verkopft avantgardistisch-bemüht, sondern erzählerische Moderne höchsten Ranges, ohne daß Leserinnen und Leser es überhaupt merken. Bei gleichzeitig enormer, einer nicht selten ergreifenden Humanität, die es vermag, selbst auf die Gegner (also gegnerischen Romanfiguren) empathisch zu schauen, nämlich: zu verstehen.
Die Frau hat ein riesiges Werk hinterlassen; leider steht, denke ich, daß sie sich ausgesprochen verschiedenen Genres zugewendet hat, ihrer Wahrnehmung durch die Nachwelt ebenso im Weg wie der Umstand, daß auch sie, Frau Lewin, als IM verpflichtet worden war. Soweit ich weiß, haben ihre, sagen wir, „Berichte“ allerdings keine Schäden angerichtet; sie dürfte sie, scheint mir, mit derselben Raffinesse wie ihre Prosa verfaßt haben – so, daß die, sagen wir, „Auftraggeber“ gar nicht merkten, wie sie ausgehebelt wurden. Ist jedenfalls mein Eindruck. – Nach 1989 hat sie sich zudem um die Förderung junger Autorinnen und Autoren verdient gemacht, besonders beim Treffen Junger Autoren der Berliner Festspiele. Da war sie liebende Autorität.
Grüße aus der Dunckerstraße:
ANH
***
[Arbeitswohnung, 10.10Uhr
Paul Juon, 2. Sinfonie]
(An mir kaut nun doch, → deswegen, die Depression herum, sitze noch immer im Morgenmantel, kam erst um acht Uhr hoch, alles nicht so richtig gut. „Gut“, na sowieso, na jà.  Aber ich kann kaum ausdrücken, wie wohl es da tut, Lewins Schwanenbuch zu lesen. Was ich gestern fast den gesamten Tag über tat und heute abschließen werde — um mir das nächste ihrer Bücher zu bestellen. Gegen diese Prosa schlagen wir nur eine Seite der hochgerühmten Christa Wolf auf und pusten über die Seiten; trocken zerstäuben die Lettern wie Staub.
ANH, 10.42 Uhr)



 

5 thoughts on “Waldtraut Lewin. Ein Vorschlag an den Tagesspiegel-Checkpoint.

  1. Waltraud Lewins Erstling ist ein guter Tipp, ist mir irgendwie entgangen damals, antiquarisch hin, antiquarisch her, ich habs mir bestellt, von ihrem Friedrichroman war ich schon in der DDR beeindruckt, lol, von Christa Wolf auch, jedenfalls „Kindheitsmuster“, tja manches andere Werk von ihr war schon trocken und humorlos, für „Kassandra“ bin ich hunderte Meter in der Karl-MarxAlle angestanden, stimmt, war schon trocken und furchtbar ernst, wir hatten sie verehrt, grins, aber immer noch besser als Günther Grass` sabbernde „Blechtrommel“, dafür gabs natürlich den Nobelpreis

    1. Lieber Franzsummer,
      das schlimme, sind solche Bücher ausgelesen wie soeben dieses, ist, welch Leere dann zurückbleibt – weil man gar nicht mehr weiß, was jetzt tun. Es ist nicht ganz so schlimm wie die Trennung von einer, die man liebt und jetzt aber, im Präteritum, liebte, doch hat es etwas davon. Ratloses Herumschauen, in, ecco, die Leere schauen, ohne wirklich fragen zu können, was les ich denn jetzt? Nichts verlockt, zum (zur) Nächsten zu greifen; es wär wie Blasphemie.
      Ihr ANH

      (Sozusagen aus Notwehr habe ich jetzt gleich sechs weitere Romane von Lewin antiquarisch bestellt, die hoffentlich bald eintreffen werden.)

  2. Lieber ANH,
    danke,
    smile, ja das ist ne gute Notwehr. Waltrau Lewin hat ja offenbar mehr Bücher geschrieben, als man denken kann. Interessant, sie kommt bzw. kam aus dem Bereich Oper, mir war das neu, quasi Textbücher für Musik.
    Da ich ja das Buch erst erwarte, kann ich nun extra gespannt sein., da es Sie so beeindruckte.
    Eine „Leere“ befürchte ich nicht, ich bin für diese Art Leidenschaft eh zu alt. Aber freuen Sie sich auf einen eigenen Friedrichroman. Vielleicht entstehen Anregungen. Hatte dieser Mann Friedrich II. nicht so eine Auffassung zur Machtausübung (jetzt beuge ich mich weit aus dem Fenster) ähnlich der Putins heutzutage, also diese Rücksichtslosigkeit gegen Andersdenkende.
    Aber ich kann mich täuschen.
    Na guten Schlaf und Freude demnächst an neue Bücher von Lewin.

    Ihr franzsummer

  3. +1 für Waltraud Lewin – habe nur das dtv-TB von Herrn Lucius, aber… so schnell zerstäubt die Christa Wolf nicht: Kindheitsmuster ist Weltliteratur, wer sich das Gaus-Interview anschaut und die Stadt der Engel liest, weiß, was für eine durch und durch integre Person sie war, und („Ha!“ würde Jörg Sundermeier hier einsetzen) „Ein Tag im Jahr“ kann ganz gut neben den Dschungeln bestehen.

    Das mit der postlektüralen Depression hatte ich neulich nach „Mädchenkrieg“ und „Der Kanal“.

    1. Weltliteratur sind, soweit ich bisher kenne, der Schwanenroman, der Federico und jetzt „Die stillen Römer“ auch – jedenfalls wären sie’s, wären sie (was ich nicht weiß) entsprechend übersetzt und vor allem auch diskutiert worden. Anders als Christa Wolf ist Lewin aber nie auf einer „Welle“ geschwommen; sie ist „ganz einfach“ ihrem eigenen Kompaß gefolgt – und in der Erzählfarbe, -vielfältigkeit und vor allem der Bild- und Romankonstruktionskraft finde ich sie der Wolf weit, aber s e h r weit überlegen; nicht nur der aber. Zumal Wolf moralisch enger, deutlich moralisch eben ist; Lewin ist’s nur auf der Oberfläche, etwa in den „Plot“s; pulen Sie da etwas (also, lesen Sie z w i s c h e n den Zeilen), entfaltet sich eine auch psychologisch extreme Spanne. Und wenn ich weltliterarisch Lewins Farbigkeit betrachte (im musikalischen Sinn: die „Tonfarben“ ihrer Prosa), wäre eine Vergleichgröße García Márquez. Ich werde das in einem Essay detailliert belegen, hab es jedenfalls vor.
      Und romantechnisch, nun nà, von Wolf gibt es einen diskutablen Roman, von Lewin sehr viele Romane. Auch das ist ein Unterschied. Ein einziger Roman „macht“ noch keine Romancière und keinen Romancier; das wird man erst bei einem Romanwerk. – M e i n e Meinung, klar. Läßt sich auch anders sehen.

      „Ein Tag im Jahr“ kenne ich nicht, danke für den Hinweis. Schau ich mir gelegentlich an.

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