Eine kleine Himmelskunde modulierter musikalischer Gesten. Der „unbekannte Bruckner“ in der Digitalen Konzerthalle der Berliner Philharmoniker, beseelt von Christian Thielemann.

 

 

      Wenn er denn mehr lächeln würde, vielleicht auch mal — wie es die Mallwitz nicht nur tut, nein, sie reicht’s auch weiter — … also vielleicht auch mal lachen, wenn er dirigiert, im Orchester formte er noch mehr aus, was Thielemann diesen frühen Sinfonien Bruckners im Gespräch attestiert: diesen brucknerungewöhnlichen Schwung, ja Witz der beiden frühen Sinfonien, die er und da auch wirklich seine Musikerinnen und Musiker gestern abend in der Berliner Philharmonie zur Aufführung brachten. Und in die Arbeitswohnung mir.
Sowohl in der noch frech (weil aber eigen) nicht Melodien etwa Rossinis,Léhars, bisweilen Lortzings, sondern deren Gesten nicht einmal nur imitierenden, vielmehr vielleicht sogar einst wirklich gefühlten der f-moll-Sinfonie, die ohne Verzeichnisnummer blieb, als auch, und sogar stärker, der sogenannten „Nullten“, bestimmt ein jugendliches Temperament, das sogar sprühen kann, den Klangraum, als ob wir Oper hörten. Zwar, richtig, besonders in dieser Nullten[1]Wie Thielemann im Gespräch ausführt, ist diese Nummer keine Zahl, sondern rühre, als Spitzname quasi, daher, daß der Komponist die Sinfonie nach kritischen Einwänden „anulliert“ habe  ist ständig der Choral schon da, einer des naiven Glaubens (anders als Mahler spürt Bruckners Musik die weltgeschichtlich nahen Katastrophen nirgendwo voraus; die Fragment gebliebene Neunte schließlich ward gar „dem lieben Gott“ gewidmet), aber noch sie, diese eigentlich Sinfonie Nr. 2 vibriert, wiewohl in moll gesetzt, in Dur. Und wir, die Hörenden, erfreuen sich des Überschwangs, von dem ich gestern abend ein paarmal dachte, verlaßt die Partitur! – nicht sehr, nein, aber doch so, daß die Motive nicht nur tanzen, sondern w i r b e l n, dreht doch die Tempi weiter auf, schlagt sie wie Kreisel mit dem Peitschchen (’s ist ja dieselbe Zeit) — wir würden mitgewirbelt werden, raven. Erstaunlich, daß das hier drinlag, in ihm liegt, diesem mir, anders als es angekündigt, durchaus nicht unbekannten frühen Bruckner. Doch so habe ich diese beiden Sinfonien noch niemals gehört. Nur noch ein bißchen, abermals, sie überdrehen, Christian Thielemann, und aus dem deutschen Ernst hinaus!
Doch so schon, welch ein Abenteuer! Gar nimmer konnt ich mich vom Bildschirm lösen — und hatt‘ schon gar nicht vorgehabt, über das Konzert zu schreiben. Eigentlich ist Bruckner von mir zu weit weg, ich mag das oft so Weihevolle nicht, den ungebrochenen Pathos, auch die christliche Wehleidigkeit sich selbst verbrämender Opfer, das, was schon Nietzsche auf den Keks ging. Der Zahnschmerz – jajaja, er tut schlimm weh, doch ist er gleich der Schmerz der Welt? Ein Blick zu dem verliebten Pärchen da, und unsre Hybris lacht uns aus. Es ist das Tolle an dieser jugendlichen Musik, daß sie genau das zeigt. Denn die Choräle, sicher, sind eben auch schon hier zugegen, nur sind sie der Grundton noch nicht. Und ich dachte, nein, empfand, man müsse die späten Sinfonien Bruckners ganz unbedingt mit diesen frühen hören, dann kommt man von diesen dummen Sätzen weg, wir seien bei Bruckners Musik gar nicht mehr auf Erden.
Plötzlich klingt Carl Maria von Weber überhaupt nicht mehr (deutsch)national; auch das ist eine Befreiung. Aber das ausgerechnet Thielemann das schafft? Sogar von ihm bekam ich ein gänzlich andres Bild. Übrigens auch in der Beobachtung seiner Interaktion mit der ersten Geigerin der Berliner Philharmoniker, welch eine klasse Wahl! Wie sie nicht nur ihr Instrument allein dem jugendlichen Furor Bruckners Ausdruck verleihen ließ; sah Thielemann zu ihr hin, die präzise zugleich seinen Vorgaben folgte, wirkte er fast erstaunt, ja er selbst fast verführt. Nur den Stock aus dem Arsch noch müßte er kriegen. Wie gesagt, ein bißchen weiter aufdrehn …

Das taten die Philharmoniker alle … zum Beispiel Albrecht Mayer, der Philharmoniker Erster Oboist … das zu sehen, wirklich zu sehen, ist nur in der digitalen Konzerthalle möglich: wie er bläst und stärker bläst, und erst ist sein Gesicht noch fast blaß, dann schwillt es an, wird rot, röter, noch röter, bis, meine Güte, vorm Herzinfarkt fast, den er, ich bin mir komplett sicher, für die Schönheit des Tons inkauf nehmen würde. Allein schon, davon Zeuge zu sein, macht die digitale Konzerthalle zu einem unmittelbar physischen Raum, doch einem in der Seele. Und der Ton dieses jungen Hornisten, seine geschmeidige, doch undistanziert innige Weise — Weise in beiderlei Lesart; wie sich sein Klang unaufdringlich, sogar an fast nicht vernehmbaren Stellen, vernehmbar in die Klangwolken, ja in deren Wogen mischt, wie kann er das derart pianissimo spielen? — Ich kenne leider seinen Namen nicht[2]NACHTRAG, 4. März: Giullaume Tétu — als, ein hier eigentlich kaum passendes Wort, „Aushilfe“ des Orchestre national de Lyon, gleich neben der ausdrucksvollen und zum Hinknien eleganten Sarah Willis sitzt er und sitzt da ganz z u r e c h t. Wir gern ich ihn mal in Brittens Serenade hörte! … untuckwellsch nämlich einfach nur e r.  Denn was heißt hier „nur“?

          Und das jetzt? Wie? Ein angedeuteter Fandango, bei Bruckner? Ich kann es gar nicht fassen. Kam in der f-moll-Sinfonie aber auch schon vor. Kein Spielfilm hält da mit, kaum eine Oper, was sie, diese „nullte“ Sinfonie, da abschreitet und durchmoduliert. Aber ja, auch die typischen Zwischenpausen Bruckners sind schon da, wenn der Klang, mitten im Satz, plötzlich stillsteht, eine halbe Sekunde lang vielleicht, vielleicht eine, mag auch sein, es sind von ihr anderthalb. Und wieder neu ansetzt. Der späte Bruckner, ja, ist schon da. Und Thielemann hat auch hier recht: Dieses Andante ist ein Wunder. Allein die Pizzicato-Stelle der schweren Bässe, wie unversehens die Musik mystisch da wird! Dabei, im Allegro davor gab’s sogar Triller … Triller, ja, echt! – wobei dieser erste Satz der Nullten imgrunde ein einziges durchgezogenes Ostinato, das aber crescendiert, ist und dennoch als Basis des Chorals wirklich „funktioniert“. Der braucht Ruhe und hat sie, egal, wie’s strömt unter ihm und wogt und wogt.
Im Scherzo hören wir wieder Rossini, Sevilla, und aber das Finale, Moderato-Allegro vivace, ist tatsächlich eine, dieses Wort fiel mir als allererstes ein, Aufbruchsmusik. So zieht man aus — der Hoffnung, nein, mehr noch, der Zuversicht voll —, die Welt zu erkunden.

           Mein Brucknerbild hat sich gestern abend restlos verändert. Christian Thielemann und die Berliner Philharmoniker haben es verändert. So daß ich, ist dieser Text fertig und auch eingestellt, heute weiter Bruckner hören werde, erst auch späte Sinfonien, dann, um 12, → die Wiederholung des Konzertes von gestern, dann späteren Bruckner erneut. Kann auch sein, daß ich nach der Wiederholung, die ja Zweit-Aufführung ist, an diesem Text hier noch etwas verändre. Was aber schon feststeht, ist, was die Digitale Konzerthalle der Berliner Philharmoniker vermag: uns nämlich hautnah in eine Musik hineinzuversetzen — näher, viel näher, als es ein realer Konzertsaal ermöglicht, ermöglichen kann, weil wir dort immer die Totale sehen und Totale immer auch hören. Was, bei geschlossenen Augen, klanglich kaum vergleichbar ist; in der digitalen Konzerthalle allerdings hören die Augen m i t. Freilich brauchen Sie eine erstklassige Musikanlage, zumindest eine gute — oder sehr gute Kopfhörer, und mp3, na sowieso, müssen Sie vergessen. Meine Empfehlung, so habe ich es in meiner Börsenzeit getan: Legen Sie Ihr Geld anstelle für einen Mittelklassewagen in Ihrem persönlichen Konzertraum an, oder verkaufen Sie Ihr Auto für ihn. Sie werden Ohren machen.

           Die optische Übertragung von live-Konzerten entspricht der Leistung von Simultandolmetscherinnen und -dolmetschern, nur daß es nicht um funktionale Sprache geht, sondern um eine im Moment ihres Vortrags möglichst gleichwertig zu übertragende Dichtung. Die auch poetische, nicht nur technische Perfektion, in der dies seit unterdessen nun schon Jahren für die digitale Konzerthalle geschieht, zeigt uns, daß nicht nur die Toningenieure selber Künstler und Künstlerinnen sind, die sowieso, nein, auch die Techniker sind es.  Und ja, sie alle sind für die spätere Bildregie selbstverständlich bei den Proben zugegen, in denen sie erspüren und lernen, von Aufführung zu Aufführung, was während des Live-Konzertes ins Bild zu nehmen sei (die spätere Aufarbeitung fürs Archiv ist noch einmal etwas anderes); doch auch unversehens kann etwas geschehen, das es nötig macht, andere als die geplanten Podiumsdetails (dieser Oboist, jener Hornist, die ganze Cellogruppe usw.) in das Bild zu rücken; Sie müssen also fürs Einfangen lebens-, d.h. musiknaher Erleben improvisieren können, improvisieren mit künstlerischer Autorität.  Und das bei dem ganzen dahinterstehenden, enormen Equipment-Apparat. Meiner Erfahrung nach ist dies bei den Berlinern durchweg garantiert — auch wenn nicht jede Aufführung, selbstverständlich, zu solch absoluten Sternstunden wie denen des gestrigen Abends gehört. Weshalb ich umso gespannter darauf bin, wie die, ich bleibe mal dabei, „Archivversion“ des Konzertes aussehen und vielleicht sich auch anders anhören wird. Denn die Augen, ich wiederhole es, hören hier mit, die in realen Konzertsälen oft derart abgelenkt werden, daß sich die Optik über den Klang legt, ihn bisweilen sogar verdrängt; ich merk es bitter immer wieder und schreibe dann was Falsches, sofern ich vorher nicht nachhör.

           Danke also für diesen „unbekannten Bruckner“ auch ans Team der digitalen Konzerthalle, mal abgesehen davon, daß ich, wäre ich nicht einer ihrer Abonnenten, mir einen Bruckner ganz sicher nicht mehr „angetan“ hätte, schon gar nicht diesen jungen. Der meinen Zugang zu seiner Musik jetzt aber ein- für allemal verändert hat. Nicht verpassen also: Um 12 Uhr wird das Konzert wiederholt. Holen Sie sich einen → Zugang, und dann … dann lauschen Sie, und nicht nur mit den Ohren.

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ANH, 8.57 Uhr
Berlin






 

References

References
1 Wie Thielemann im Gespräch ausführt, ist diese Nummer keine Zahl, sondern rühre, als Spitzname quasi, daher, daß der Komponist die Sinfonie nach kritischen Einwänden „anulliert“ habe
2 NACHTRAG, 4. März: Giullaume Tétu — als, ein hier eigentlich kaum passendes Wort, „Aushilfe“ des Orchestre national de Lyon

3 thoughts on “Eine kleine Himmelskunde modulierter musikalischer Gesten. Der „unbekannte Bruckner“ in der Digitalen Konzerthalle der Berliner Philharmoniker, beseelt von Christian Thielemann.

    1. Das ist sehr wahrscheinlich, ja. Aber ich bin mir – nach Vergleichen einiger Bilder – nach wie vor nicht sicher, werde einfach direkt bei der Philharmonie nachfragen. Mein Bildschirmfoto der Hornistin habe ich ja eingestellt. (Was den jungen Hornisten anbelangt, auch da habe ich bei den Bildern der Philharmoniker → auf deren Website geschaut, aber auch kein Foto gefunden, das mich einen Namen eindeutig zuordnen läßt. Wirklich ein Unding, daß für Portraitfotos immer Jugendbilder, quasi, hergenommen werden; auch ein bißchen peinlich, eigentlich.)

      Wenn ich die Antwort habe, werde ich meinen Text selbstverständlich entsprechend ändern. Danke indes für den fragenden Hinweis.

      1. Soeben kam die Antwort, dank an Frau Stoll, Berliner Philharmonie. Ich habe meine Rezension entsprechend korrigiert. Doch auch hier nochmal die richtigen und überhaupt die Namen:

        Albrecht Mayer, Oboe
        Guillaume Tétu (als Gast des Orchestre national de Lyon)

        und die Hornistin war, ja, (und ist es selbstverständlich noch) — Sarah Willis. Sie möge mir verzeihen.

        ANH, 4. März

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