[Beitragsbild: Kate Winslet als Lee Miller
Still aus → „Lee“ von Ellen Kuras, 2023]
[Arbeitswohnung, 7.06 Uhr
Erster Latte macchiato
Stille (ein unterschwelliges Rauschen von Wind
„steht“ im weit geöffneten Oberlicht)]
Aufgestanden um sechs, bereits um elf ins Bett gegangen, erstmals um drei Uhr dreißig aufgewacht: die typischen viereinhalb Stunden meines Nachtschlafs. Aber liegen geblieben; er war noch nicht bereit, mein Kopf. Mit schweben dauernd Bilder von Orten über die Augen, an denen ich gewesen bin, ein Abhang in Enna, der Lago Pergusa, eine Gasse Amelias, der Buttes-Chaumont von Paris, und ich bin mir nicht sicher … falsch, bin unsicher, ob ich sie jemals wiedersehen werde. Kahl vom BND hält einen Angriff Putins auf die NATO für möglich, rechnet gar mit ihr (Quelle: ZEIT.de liveBlog). Dann wär der heiße Krieg auch hier. Wir sind für den nicht gerüstet, weder objektiv-militärisch, noch sind wir’s seelisch, vor allem. Vielmehr haben wir eine Empfindsamkeit erreicht („Wokeness“), die uns nicht nur zu ‚leichten‘ Gegnern macht, sondern zu Opfern gleich schon zu Beginn. Wer von uns hätte das Rückgrat wie Lee Miller, deren Leben ich vorgestern abend verfilmt sah, auch nur immer hinzusehen, geschweige denn, selber zu töten? Nach Frieden würden wir weiterhin rufen, mit allem Recht der Sensiblen. „Den könnt ihr haben“, sagt Putin, holt aus und trennt uns allein mit dem Wortschwert den Kopf von unserem Körper ab – noch bevor überhaupt eine erste Rakete hier einschlägt.
Es würde ein Partisanenkrieg werden auf zerstörtem, geschundenem Boden, und für einige nur unter uns, die „noch Manns genug“ sind (Manns meint auch Frauen, liebe Freundin), was eben auch Härte, Verhärtung bedeutet — wer will denn schon töten, solche, die es ebenfalls nicht, aber auch jene, d i e es wollen, sogar gerne, unbedingt, siehe den 7. Oktober der Hamas? Es werden Leute vom Schlage RAF sein müssen, anders wird es dann nicht gehen. Und wir werden Bilder aushalten müssen, die wir selber sehen, real, nicht nur auf Fotografien, in Filmen; mein Sohn fällt schon um, wenn ihm in der Hausärztin Praxis Blut abgenommen wird … Körperteile liegen herum, abgerissen matschig von aufgeweichtem Schorf, Gedärm, das über der zusammengefallenen Wand einer zerbombten Hausruine hängt, dazu der Geruch …
Die Bilder unter meinen Lidern der Orte, Ragusa, die riesige Brücke von Stadtberg zu Stadtberg, der Gartenpark der Villa Massimo, den ich gleichsam rieche, Barcola bei Triest mit seiner Nuotatrice, die Muschelbänke Neapels (der Auslagen auf dem Markt von Mercato), aus denen die Schalentiere, wenn sie atmen, spritzen — all das mildert, ist gütig, wischt weg … „Ich habe das Grauen gesehen“, sagt Oberst Curtz, also Brando, in Apokalypse now, und er wischt sich die Glatze. Lee Miller, wiewohl der Leichengeruch aus all den verschlossenen Viehwaggons steigt, steigt dennoch in einen hinein und hält für die Welt es fest, was zu ertragen kaum ist.
Ja, wir waren, लक्ष्मी und ich, in „Lee“, wie der auf deutsch mit „Die Fotografin“ idiotisch betitelte Film eigentlich heißt, ich werde die Augen Kate Winslets nie mehr vergessen. Nicht zu fassen, daß sie dieselben des naiven Mädels sind, das mit der Titanic berühmt ward. Sie sind es auch nicht mehr, sondern tot vor gesehenem Leid. Er müßte Pflicht“lektüre“ werden besonders für die erwachsene Jugend, die heute für die Hamas protestiert. „They were my people“, sagt Dave Sherman, der Fotograf von Life, und legt seinen Kopf auf Lee Millers Schulter, weinend. Das Große an dem Film ist, daß Lee Miller selber fast nie weint, dafür ist gar kein Platz mehr. Doch w i r tun’s, taten’s, nachher und immer wieder derweil, लक्ष्मी und ich, der vor dem Kino der Kulturbrauerei hochbelebte Weihnachtsmarkt war nachher Eskapismus, aber heilsam, denn was sollten wir, können wir tun?
Es stimmt alles an diesem Film, die Grundkonstruktion ist sogar hochraffiniert, indem sie ein persönliches kleines Drama (von dem wir überhaupt erst am Filmschluß erfahren) mit dem globalen großen verknüpft, das nicht „nur“ Drama, sondern apokalyptisch ist; die Dialoge zwischen Mutter und Sohn sind anfangs beängstigend elegant, wie die alte Frau den jungen Mann auflaufen läßt — so lernt sie auch ihren späteren Mann kennen, indem sie auch ihn auflaufen läßt, und er hat das Format zu parieren. Es stimmt aber auch, was extrem selten ist, die Filmmusik, oft nur, um Kitsch zu vermeiden, an der Schwelle ihrer Hörbarkeit, vornehm geradezu, das Gegenteil Hans Zimmers. Kein Pop. Eben. Und nicht die Spur der klebrigen Depressionsseligkeiten in Lars van Triers entsetzlichem Melancholia. Sondern wenn die Winslet spricht, kommt alles aus der Tiefe; gelangt es an die Oberfläche, dann ist die Frau wütend, wenn wütend, ist sie rasend – ist’s bis fast zur Selbstzerstörung (an der sie von Anfang an „arbeitet“, dauerrauchend, trinkend). Man sieht es ihr an, Kate Winslet sieht man es an, die überdies den alternden Körper zeigt, sie will, seit einem Mißbrauch in der Kindheit, niemals mehr etwas verschweigen. Denn sie hat die Opfer gesehen, nach Tausenden, Millionen. Und will nicht Opfer s e i n . Das ist nicht leicht zu haben, ist selbst ein schmerzhafter Prozeß, der Schmerz auf immer bleibt.
Zumindest die Regisseurin muß ich noch nennen, ich bin voller Achtung: Ellen M. Kuras.
Darüber, über „Opfer“, aus Anlaß meiner → Rezension von Daniela Seels neuem Gedichtband eine kleine → Auseinandersetzung bei Facebook; sie beschäftigt mich nach wie vor sehr. Typische Bewegung übrigens, meines psychischen Verarbeitungsapparates. Anfangs war ich über die Attacke verärgert, dann begann ich, mich zu öffnen, einfach, weil das Thema objektiv brennt. Auch aber, weil der Ton nicht ganz so mehr aggressiv war. Freundin, entscheiden Sie selber.
Angst um mich selbst? Habe ich nicht oder nur kaum, doch um meine Kinder. Der Große, wenn er nicht grade krank ist wie jetzt, wäre der erste, den man „zöge“: Normalerweise kann es auf seinen Händen zwanzig Meter spazieren, derart durchtrainiert, aus dem Kopfstand drückt er sich in den Handstand hoch. Solche werden als erste verheizt — was für ein Wort! (Die Gaskammern wieder.
Womit wir erneut bei den Opfern wären und diesem neuen, dem alten Antisemitismus wieder, der durch unsre Straßen johlt, aber „Niemals mehr Opfer!“ hat Ben Gurion dem Staat Israel verordnet – viele öffentliche Denkmäler dort sehn aus wie von Breker –; was Wunder also, wenn die neuen Identitären, die sich als „Opfer“ zusammenfinden, diesen Staat hassen, hassen ihn müssen? „Wir sind Opfer!“ brüllen sie, „Und die sind die Täter!“ Als wäre jetzt das Entsetzen – ja, das ist es! – in Gaza auch nur irgend mit Auschwitz vergleichbar, der Opferbegriff selber wird weich, wurde es schon, löst sich immer mehr in Wohlstandsbefindlichkeit auf; pfeift ein Straßenarbeiter einem Mädchen von sechzehn nach, ist er Mißbraucher, anstelle daß die junge Frau sich umdreht, um ihm einfach den Stinkefinger zu zeigen, aufzulachen und weiterzugehen. Nein, ’s ist ja ein Opfer, hat es zu sein.)
Und ich also, ich selbst? Geh wie wir meisten meiner Beschäftigung nach, auch meinen Begehren und Freuden, schreibe meine Bücher, fast, als ob gar nichts wäre, das uns bedroht und Tausende andre schon heute vernichtet. Wird mein Buch rezensiert werden und, wenn, wann und wie? Werde ich Erfolg haben, Anerkennung finden? Und ich flirte viel, höre täglich, jedenfalls meistens, mindestens eine Stunde lang Musik, nicht nebenbei, neinnein, auf sie allein konzentriert, rauche, trinke entschieden zuviel, doch halte, immerhin, mein Gewicht, mache sogar Pläne und gehe sie an, jeden Tag ein Apfelbäumchen an der Grenze der Auslöschung pflanzen, Europas, gleichsam, Selbstauslöschung. Mein Vitalismus ist dennoch ungebrochen (ich hatte mit Vulkanen ja schon immer zu tun) und erst recht, fast schon bizarr, meine Lust am Leben; sie ist nur nicht mehr gar so gierig: Zumindest meiner Männlichkeit, gelebter sexueller, hat von hinten der Krebs gewaltig in die Knie getreten; zu altern kommt hinzu. Meine Güte! Sehr bald bin ich siebzig. (Wir nutzen’s jetzt als „Salestool“, das immerhin bleibt ein wenig „pervers“: Mit Selbstspott läßt auch das ¦ ziemlich gut sich ertragen).
(Als drohte einem nichts. Wir nehmen’s ja bloß medial wahr. Ein Informationsspektakel, normal.)
Meinen Sohn anrufen, wie es ihm heute geht. Lesungen planen. An das PrenzlauerBerg-Buch gehen, erstmal noch Skizzen. Zweidrei Telefonate führen. Auf das besorgte Whatsapp einer nahen Freundin reagieren, die ein poetische Anliegen hat, das ihr (mit)zuerfüllen sie bat; nur hab ich grade wenig Zeit, muß mir schon dieses Arbeitsjournal aus den Abläufen schneiden. Und endlich mich rasieren, aus dem Morgenmantel raus und unter die Dusche. Ich habe noch nicht mal gefrühstückt, jetzt um zwanzig vor zehn. Was für Sorgen, ach!
Ihr ANH
Bedankt für diesen Beitrag.