Dschungeltag, wird Zeit. Mithin denn: Gen siebzig! Das Fluch- und Arbeitsjournal, eines nämlich der Vergegenwärtigung a u c h, des Dienstags, den 4. Februar 2025.

[Arbeitswohnung, 10.52 Uhr]

           Leserin, verzeihen Sie mir. Doch ich vernachlässige ja nicht nur Die Dschungel, bekomme auch sonst nichts zuwege. Was »funktioniert«, ist, zu lesen, für eigenes fehlt mir die Kraft – also erst einmal die Zuversicht und daraus folgend jene. Die »Briefe nach Triest« legen vor, aber es hat sich – nach den beiden guten Rezensionen von Röhnert und Schnell wieder das Schweigen über meine Bücher, speziell nunmehr dieses, gelegt. Das macht mir zu schaffen. Woher soll ich, und wozu, die Energie beziehen, noch ein neues zu beginnen? Erneut das Gefühl, fast Bewußtsein, eine Totgeburt nach der anderen in die Welt gesetzt zu haben. – »Nein!« zwar hat Ricarda Junge, der ich’s erzählte, ausgerufen. »Nein, du hast Soldaten in die Welt gesetzt, die unter Beschuß stehen, ganz vorn an der Front, Soldaten eines Glaubens an die Literatur … an eine Ästhetik der Gegenwart, die Ästhetik eben auch ist. Und du weißt nicht, ob sie das überleben werden. Dein Buch aber selbst«, sie meint die Briefe nach Triest, »ist über jeden Zweifel erhaben. Ich lese es grad, da ist dir was Großes gelungen, sehr großes, Alban. Und was ich nicht geglaubt hätte: Ich lese es, ohne dich auch nur vor Augen zu haben, ich lese nicht aus Freundschaft.«
Es ist ja insgesamt so, daß alle, die es lesen, begeistert, wenn nicht hingerissen sind, und ich selbst habe an der Qualität keinen Zweifel, nicht mal in den dunkelsten Stunden. Deren es in den vergangenen sechs Wochen ziemlich viele gab. Weshalb ich eben schwieg, auch hier in Der Dschungel. Ich guckte nicht mal mehr hinein. Doch nach einem sehr miesen Tag gestern, an dem mich zu alledem ein Virus erwischt zu haben schien und mehrmals in meiner Erschöpfung ins Bett zog, wo ich auch jedesmal gleich einschlief … – doch nach diesem Tag kam ich heute morgen, anders ist es nicht auszudrücken, seltsam erfrischt zu mir, wollte zwar erst noch Weiterschlafen, aber riß mich zusammen, bereitete den Latte macchiato und guckte in Der Dschungel mal nach. Worin sich tatsächlich einige → Kommentare angesammelt hatten, teils unter Adressen, die ich zuerst für Spams hielt. Als ich dann aber nachsah … Nun gut, ich werde antworten müssen, und will es.

           Später.

           Erstmal entgegnete ich der Essenseinladung eines Freundes:

Wegen morgen laß uns morgen früh telefonieren. Gestern hat es mich selbst nieder- … , na jà, „-geworfen“ ist für etwas arg übertrieben, das mich mit eher sanfter Gewalt dauernd nötigt, mich hinzulegen und zu schlafen. Kreislauf war komplett down, Schwindelgefühle, Gliederreißen usw., leichtes Fieber, etwas Nieserei, gräßliche Appetitlosigkeit und von daher Gewichtsverlust. Da es heute aber schon wieder deutlich besser ist, vermute ich, daß dieser Zustand auch mit meiner derzeitigen, sagen wir, subdepressiven Phase zusammenhängt. Mein anstehender Siebzigster macht mir psychisch seit Wochen zu schaffen, und es wird grad nicht besser. Gäbe es endlich mal eine anhaltende Resonanz auf meine Bücher, momentan grad die „Briefe nach Triest“, wäre es ganz gewiß anders, und ich würde mich auf diesen Geburtstag freuen. Doch s o fühlt er sich nach einer Niederlage, einer Lebensniederlage, an – eine Befindlichkeit, die Infekten gleich welcher Art nur zu bereitwillig Tür und Tor öffnet.
Ich kann also grad nicht sagen, ob ich morgen schon wieder essen kann, bzw.. mag. „Sollte“ freilich sollte ich. Doch da ich weiß, wie sehr Dich meine Unzufriedenheit, Enttäuschungen und Wut und auch, ja, Herumgeklage nerven, will ich Dir dergleichen nicht zumuten und die vielleicht sich bei uns hebende Wiederannährung nicht gefährden. Da meine Stimmungswechsel momentan aber enorm sind, kann’s auch sein, daß ich unversehens gut drauf bin. Denn auf der anderen Seite weiß ich ja genau, was ich da in die Welt gebracht habe – gerade auch mit diesem neuen Buch. An der Qualität meiner Arbeit und den – im deutschsprachigen Raum – Alleinstellungsmerkmalen ihrer Ästhetik habe ich nach wie vor nicht den geringsten Zweifel. Sie bringt mir halt nur Altersarmut ein. Was alles seit langem vorherzusehen war. (Ich komme aber klar, finanziell.)
Ich muß einfach damit zu leben lernen, daß mein Zeithorizont, also der meiner Dichtung, sehr sehr nahegerückt ist; für eine grundlegende Wandlung wird der Raum knapp. Vor zwanzig Jahren war das noch anders.

           Dies bringt es auf den Punkt, gerade auch in Angesicht meines siebzigsten Geburtstags. Und also denke ich dauernd über den Tod nach. Was mich immer am Leben gehalten hat, leidenschaftlich, war dieses »Es wird sich schon ändern, ich bekomme das hin, muß nur noch genauer arbeiten, noch komplexer werden, und sinnlicher zugleich.« Ich meine, so bin ich selbst den Krebs angegangen, meine Krebsin, und es hat sich als richtig erwiesen; doch sogar das war literaturbetrieblich ohne Interesse. Bei Herrndorf hingegen warn sie alle dabei. – Weil er schließlich umkam? Freilich, er war eh schon gehypt. Aber wie so viele nicht aus literarästhetischen Gründen, sondern aus solchen der, ich schreibe mal, Sozialität. Jirgl ist da ein andres Kaliber, Ransmayr ganz ebenso, egal, ob ich den einen, diesen, mag, den anderen nicht. Ich kann auch Dichter schätzen, und Dichterinnen, die mir persönlich Gegner sind.
Und dann ist da noch Christopher Ecker, den auch niemand oder kaum wer kennt, ein geradezu schreiendes Unrecht. So gesehen, Freundin, bin ich nicht allein, schon Eigner ging es ähnlich. Der hatte aber noch Freunde, die ihm Preise zugespielt haben, als es um ihn nicht mehr gut bestellt war. Sein nachgelassener großer Roman Der blaue Koffer aber ist nicht mal mehr besprochen worden, bzw. nur marginal und von einem Mit-Wegbegleiter seiner Generation. Von »Nachleben« läßt sich nicht sprechen, ich muß es ein »Nachschweigen« nennen. Vielleicht spielt es eine Rolle, daß weder er noch ich vom Pop geprägt worden sind; ich halte es sogar für wahrscheinlich. Doch auch denen unserer eigenen Herkunftslinien sind wir zu wenig angepaßt; das gilt für Ecker ganz genauso. Nicht Literatur wird verkauft, wenn sie denn verkauft wird (wenn es also die Bücher werden), sondern der Zeitgeist; ihm ist zu antichambrieren. Bloß daß, wenn etwas Geist nun wirklich nicht hat, es die Zeit ist. Geist hatte nie eine Zeit (doch kam und kommt er gelegentlich in ihr vor).

           Am 23. sollen wir wählen. Wen denn? – Imgrunde dasselbe Problem. Die Grundfragen nimmt niemand ins Auge, etwa, wie ein Weltfriede gesichert werde soll, wenn es auch nur eine einzige mit politischer Macht ausgestattete Religion gibt, die sich für die einzig Wahre hält? wenn es also Länder gibt, die Glaube und Weltliches nicht aufs allerschärfste trennen? und solche, die die Menschenrechte verneinen? und solche, die unsere physische Grundlage, die Biologie, durch Ideologien ersetzen – durch Glaube eben auch?
Des weiteren muß sich doch niemand wundern, daß, wenn sich Kunst am Populären orientiert bzw. orientieren sich soll (denn anders ist kein Durchkommen mehr) und also Pop als die ästhetische Norm fungiert – daß dann der Populismus ganz ebenso gesellschaftlich ultima ratio wird. Und mal im Ernst: Wenn vermeintliche Eliten uns vorschreiben, wie wir zu sprechen haben, auch wenn die Mehrheit sprechen so nicht will, dann ist’s doch völlig wurscht, ob »plötzlich« Autokraten regieren; den Wert der Demokratie haben eben diese »Eliten« doch selber durchgestrichen … die dann, ich schrieb es schon → woanders, das abendländische moralische Erbe, nämlich Europas, als kolonialistisch diffamieren, die Menschenrechte nämlich. So werden Massenmorde und Massenvergewaltigung zu legitimen Widerstandsakten. Perverser, wirklich, geht es nicht, und kaum mehr dekadenter. Schon schleifen Putins Goten Rom.
Wen also wählen? Zumal sich keine »bessere« Rampe künftiger AfD-Erfolge denken läßt, als wenn nun erneut eine »Ampel« regierte (es gibt auch Ampeln ohne Gelb). Ich bin mir leider ziemlich sicher, daß wir in vier Jahren eine Alice Weidel als Kanzlerin haben werden oder jemand anderes von ihrer, nun jà, »Couleur«. Und dann? Was tun wir dann, wir Demokraten, ist so jemand einmal gewählt? Die Partei als verfassungsfeindlich erklären lassen – und damit möglicherweise mehr als ein Drittel aller Wähler, Wählerinnen? Ich weiß schon, wer sich die Hände da reibt.
Und künstlerisch erneut: Pop & Populismus. Es unterschätze diesen Zusammenhang niemand. Er ist einer der »Quote«. Die ist der Klebstoff. Ganze öffentliche Abteilungen, von kleinen Ämtern bis zu Ministerien, sind mit ihm verleimt, ganz wie öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die – und deren astronomische Intendantengehälter – wir zwangsfinanzieren müssen. Was übrigens auch dazu beiträgt, daß das Vertrauen in unsere höchste Instanz, das Bundesverfassungsgericht, tiefe, tiefe Risse bekam – und damit in die Demokratie-an-sich. Für jemanden mit einem Einkommen von monatlich 15.000 € sind die 52,nochwas schnuppe; jemandem mit 1.500 aber nicht. (Dasselbe gilt für Bußgeldbescheide und sonstige staatliche Ordnungsgelder). Wohlgemerkt, ein Staubsauger, der 200 € kostet, kostet 200 €, das ist komplett in Ordnung, nicht aber, wenn es um hoheitlich eingezogene Gelder geht.
Es lassen sich durchaus Zweifel haben, inwieweit Demokratien Demokratien wirklich sind. Und werden die Zweifel zu groß … Nicht besser dann doch ein, egal, wie man’s nennt, »Königstum«? da weiß man, was man hat, und ist vor allem von Verantwortung frei und darf dann endlich wieder sagen: »Ich habe nur Befehle ausgeführt.«
Im Militär gilt, die Befehlskette zu mißachten, nach wie vor als strafbares Delikt. Dies war der Grund, und war die Begründung im Prozeß, meiner Kriegsdienstverweigerung. Nicht, daß ich Pazifist war.

           Bin ich von der Kunst abgekommen, von meiner, von ihr »ganz allgemein«?
                 Nein, bin ich nicht. Was ich erzähle, ist die Welt, in der sie entstand und entsteht und die sie seit jeher im Blick hat. Es ist auch für mich selbst von enormer Bedeutung, sich das zu vergegenwärtigen. Ich habe von allem Anfang an gegen Mitläufertum angeschrieben, egal, auf welcher politischen Seite es schranzt. Ich schrieb und schreibe gegen autoritäres Benehmen an, schreibe an gegen moralische Normen, wenn sie dekretiert werden, egal, welche es sind, schreibe gegen Eineindeutigkeiten an, gegen Ambivalenzlosigkeit, Gesetze ohne Schlupfloch, mich interessiert unsere condition humaine – für wie wir sind, nicht, wie wir sein soll(t)en. Ein Nein ist ein Nein, kann aber auch ein Ja sein oder ein Jein, ein Ja genausogut ein Nein.

Menschen sind nicht normierbar, sonst wären es Roboter. Ein Mißbrauch sogar kann Erlösung sein, auch wenn er Mißbrauch ist. (Ich schreibe »kann«, nicht »ist«). Wir müssen immer gucken, in welcher Hinsicht und für wen. Dafür steht meine Dichtung. Ich lasse ihr nichts verbieten. Ob sie schließlich gelingt, steht auf einem anderen Blatt – einem, das über Form spricht, nicht über Moral. An jener allein bemißt sich ästhetischer Wert.

           Jetzt geht’s mir, Freundin, ja, viel besser. Sich einfach mal wieder klarmachen, worum es einem eigentlich geht, immer ging. Und daß man dafür logischerweise nicht sehr geliebt wird, jedenfalls in einer Pop-, nämlich Quotengesellschaft, die Konsensgesellschaft zu werden verlangt, doch von nur wenigen bestimmt wird und also Sorge dafür trägt, daß einen die vielen gar nicht erst kennen. Um so besser taten die letzten beiden Sätze, die mir in unserem kurzen Mailwechsel heute morgen der Freund noch schrieb:

Das Geschenk für Dich verträgt auch eine Wartezeit. Nur die folgenden Worte nicht: Glaub an Dich. 

 

           ANH
                           13.21 Uhr

(Und jetzt, sowie dies eingestellt und sozialmedial verlinkt, an die → Beantwortung der Kommentare!)

[14.06 Uhr)
Jetzt hat sich’s doch noch mal verzögert. Anruf meines Sohnes, ausführliches Gespräch über vieles, was ich hierdrüber geschrieben habe. Es tut mir ungemein gut, mit dem jungen Mann zu sprechen, der durchaus nicht in allem meiner Meinung ist, aber die seine sehr gut zu vermitteln weiß und mir immer wieder Perspektiven eröffnet, die ich selbst nicht oder noch nicht sah. Selbstverständlich bleiben dennoch Differenzen, aber auch sie in kulturell ausgesprochen guter Form und Qualität.

 


[Fotografie ©: → Bernward Reul]

 







 

1 thought on “Dschungeltag, wird Zeit. Mithin denn: Gen siebzig! Das Fluch- und Arbeitsjournal, eines nämlich der Vergegenwärtigung a u c h, des Dienstags, den 4. Februar 2025.

  1. Herzlichste Wünsche, lieber ANH, auf jedem Fall zum Glück, und all jener Unordnungen, die dazu beitragen (können:) !
    Und, wie schön, dass Sie dank Sohn einen der Jüngeren haben für den innigen Widerspruch!
    (Weil, man darf nicht vergessen, wie anders für Jüngere vieles in/möglich wird oder wirkt:), und man kann mit ihnen schon auch schauen gehen, nach dem Möglichen im Widerspiel mit dem Unmöglichen 🙂 . Nicht mehr und noch nicht ändern ihr Verhältnis gewaltig, die ersten und die letzten , hm, 15+x:) Jahre… Das erfordert Beweglichkeit und (endlose:) Neugier… (Aber ich hab gut reden, für mich war der Niedergang der Kritik markiert, als ein Sz Journalist anno xx in seiner Besprechung von Godards Film „Europa“ deutlich kritisierte, dass Patti Smith darin nur so kurz vorkäme, mit nur wenigen Sätzen, obwohl sie doch zweifelsohne viel mehr Gutes zu äussern gewusst hätte und ja eben Patti Smith! sei… . Nicht (mehr:/) denkbar war ihm die Möglichkeit, dass es aus eben genau diesem Grund vollkommen ausreichte, sie kurz aufleuchten zu lassen, und ihre Präsenz im Film als ein weiteres Zeichen zu nutzen, weil eben eine Anspielung und P.S. als Referenz da vollkommen genügte. …Seither beobachte ich, wie eben die Fähigkeit zur Abstraktion seitens der Rezeption schwindet, und es gar nicht 1:1 genug „direkt“ etc. etc. sein kann. (Ob das mit Pop zu tun hat, weiss ich nicht, kenne mich damit zuwenig aus:/. Aber da mich R. Goetz immer sehr inspiriert (dem aber die Geschichtlichkeit von Pop immer sehr klar war und ist), lass ich’s mal dabei.:). – Beste Wünsche jedenfalls auch von der heutigen und hiesigen Spatzenbelegschaft am Kanal – die finden es einen super Tag, ganz eindeutig.:))

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