[Beitragsbild © aus Matthias Schönweger, → GEBUCHT (Buch 1)
Edition Retia, Bozen 2023]
Eurydike anzublicken, ohne an den Gesang zu denken, in der Ungeduld und Unklugheit eines Verlangens, welches das Gesetz außer acht läßt, das ist Inspiration. Verwandelt also Inspiration die Schönheit der Nacht in die Irrealität des Leeren? Macht sie Eurydike zu einem Schatten und Orpheus zum unendlich Toten? Wäre die Inspiration also jener problematische Augenblick, da das Wesen der Nacht zum Unwesentlichen wird und die einladende Vertrautheit der irdischen Nacht zur trügerischen Falle jener anderen Nacht? So ist es. Von der Inspiration ahnen wir nur das Scheitern, erkennen wir nur die irregeleitete Heftigkeit (…), als ob der Verzicht auf das Scheitern viel schwerer wöge als der Verzicht auf den Erfolg (…).
(…) Die Inspiration bedeutet den Ruin des Orpheus und die Gewißheit seines Ruins, und sie sagt nicht etwa zum Ausgleich das Gelingen des Kunstwerks zu (…). Das Werk ist durch die Inspiration nicht minder gefährdet, als Orpheus bedroht ist. (…) Deshalb schützt es sich auch durch die an Orpheus gerichteten Worte: Ich werde dir nur erhalten bleiben, wenn du sie nicht anblickst. Doch dieser verbotene Drang genau ist es[1]Präziser, (ANH): „Doch ist es genau dieser verbotene Drang“, dem Orpheus folgen muß,um die Kunst über den sicheren Boden hinauswachsenzu lassen.
Maurice Blanchot, Cahiers d’Art, 1953
Dtsch. v. Helga Bergmann
Nun konnte sein Gesang erst werden
Er war zuvor nur Sang,
war reiner Überschwang gewesen
und nicht, was alles faßt: der Klang
des Grases und der Herden
und der von ihrem Niedergang,
auch unsrer, und der kleinsten Wesen,
und unsrem, und wie todesbang
selbst größte Tiere sich bisweilen,
wenn von dem Wissen eine Ahnung
in ihnen, die sie am Ende mit uns teilen,
dämmernd aufgeht, zu dem Sprung
hinweg nicht länger wenden,
sondern sich bereit ergeben –
(…)
ANH
Das Ungeheuer Muse (2018)
No 5, Eridanus
References
↑1 | Präziser, (ANH): „Doch ist es genau dieser verbotene Drang“ |
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Alexandra Trencséni
Mir war (von Theweleits wichtiger Lesart des Mythos abgesehen) immer sehr präsent, dass Eurydikes Lebendigkeit nur erhalten werden kann durch das Vertrauen, sich ihrer (als Folgende , sozusagen „wie vorgesehen“:) eben nicht zu versichern. …Wenn jemand bei den Toten war, ist die Wahrscheinlichkeit gross, als Andere/r zurückzukehren, falls denn. – Dieser Transformationsraum muss belassen werden; eine Disziplin des Vertrauens. Gibt es nicht eine Zeile von jemandem, wonach wiederkehren nur kann, was oder wer anders wiederkehren darf? (Vielleicht Gertrude Steins „Tender Buttons„, nüchtern-morphotischer Elan;))
In meiner, ich schreib mal, „Auslegung“ nimmt der Mythos einen noch einmal g a n z anderen Gang:
4 – Eridanus
und plötzlich brennen wir – allein
mit uns Daß die Geliebte lebt
von ihm vergessen und befreit:
jetzt wird er dessen erst gewiß
daß er sie wirklich lassen mußte
als er erbebt sich umgedreht
und sie’s, bereit, zurückgeweht
zur Flamme dunkler Schöpfung hatte
von der er noch nichts wußte
Ihm blieb der Beutel, blieb die Not
die in dem Tuch drin weiter näßte
doch nicht für ihn
Und blieb Geruch
(Ebenfalls in „Das Ungeheuer Muse“, siehe oben.]
***
Doch hierzu noch: „Gibt es nicht eine Zeile von jemandem, wonach wiederkehren nur kann, was oder wer anders wiederkehren darf?“ – Kehren wir nicht s t e t s anders wieder – und steigen nicht nur kein zweites Mal in denselben Fluß, sondern verlassen denselben auch nie, egal ob wir m i t den Wassern schwammen.]