Hatt‘ ich schon gestern schreiben wollen, dann waren’s aber zu viele Termine (Physio, Kontroll-CT, Wiederaufnahme des aus Erschöpfungsgründen unterbrochenen Kraft- und Cardiotrainings, dazu vor allem die momentan zeitaufwendige, doch höchst mich zufriedenstellende → Intelligenzkunst und am Abend noch Breths & Thielemanns und der Staatskapelle Berlin – dies schon mal vorausgeschickt – grandiose Wozzeck von Berg in der Lindenoper) … — zu viele Termine, um es auch hinzubekommen. Und also setze ich gleich heute früh an:
[Arbeitswohnung, 7.35 Uhr
France Musique contemporaine
Peter Eötvös, Musik für New York (1971/2001)]

Vorgestern war der Druck, der Niederdruck – mein Wort grad für diese Mischung aus Schwermut und Angst – so stark, daß ich um vier Uhr früh des Mittwochs unversehens wachlag und aus den Suizidgedanken nicht mehr herauskam. Da wußte ich, handeln zu müssen. Ich will ja leben, habe, nachdem ich nun nicht mehr rauche, allen Ernstes den Ehrgeiz, die Hundert zu erreichen – es ist ja wirklich alleine künstlerisch noch derart zu tun! und Großvater zu werden, das möchte ich auch noch erleben … aber, anders als seit Jahren, keine Tabletten mehr im Haus, die mich ruhigstellen, meine Emotionen dämpfen hätten können, die Bromazepamschachtel lag zwar noch da, doch war sie leer: Zu meinem Erschrecken hatte ich das schon drei Wochen vorher bemerkt, als ich gegen → die Depression zum ersten Mal einschreiten wollte. Dann dachte ich, ich bekomme allein in den Griff, mit von Wille verstärktem Kraft- und Cardiotraining … nur daß dann eben auch der Körper streikte, deutlich überlastet, grippefiebrig, wenn ich zur Siesta lag, trotz konstant-perfektem Ruhepuls Schwindelgefühle bei Aufstehen usw., kurz: Ich mußte etwas tun, rief erstmal den sozialpsychiatrischen Dienst an, da konnte niemand weiterhelfen … das heißt, eine Frau Dr. Z. riet mit, mich in die Rettungsstelle des → Alexianer St- Joseph-Krankenhauses in Weißensee zu begeben und dort im Hilfe zu ersuchen; für meinen Kiez sei es zuständig (ich selber hätte die Charité gewählt). Wie auch immer, am Abend folgte ich dem Ratschlag und nahm das Rad, um wenigstes etwas Training zu haben. Aus dem Etwas wurde etwas mehr, die → von Google veranschlagten fünfzehn Fahrtminuten vermehrten sich auf an die dreißig, weil der Navigator sich gen Orankesee verirrte oder mich für einen (da landete ich nämlich überdies) Alt-Hohenschönhauser Odysseus hielt und sich für dessen Äolus … — wie auch immer, nach absurden Wirrungen und Irren fand ich das Klinikum endlich, aber erstmal nicht den Eingang – obwohl das alles wirklich nicht schwer war, nur halt schon zappeduster. Eine „Rettungsstelle“ übriges sucht man dort vergeblich, doch liegt das nur am Begriff. Die Alexianer haben sie „Akutaufnahme“ genannt – was abschreckend zu wirken scheint. Denn im Gegensatz zu allen anderen Notaufnahmen, die ich unterdessen kennenlernen durfte, war kein Akutling da. Sie lesen, Freundin, richtig, ich war der einzige Patient und wurde quasi sofort empfangen, nach dem ich geklingelt hatte, was ich leicht zögernd tat, weil auch ein Krankenwagen draußen vor der Tür stand. War ich wirklich richtig hier?
War ich.
Ein kompakter junger Mann ließ mich herein und nahm, was ich zu sagen hatte auf. Schritt wieder in sein Zimmer, ich möge bitte waren, und schloß die Tür. Schon ging sie wieder auf, und ein beinah noch jüngerer, sportlich eleganter Arzt in … ich weiß nicht mehr, ob Jeans, in jedem Fall ohne weißen Kittel und auch sonst in Uniform nicht, sondern „casual“, wie es heutzutage heißt, bat mich herein, der ich erst einmal entzückt von dem eleganten schmalen Ohrgehänge war, das er links trug, eine wirklich schöne, sinnliche Erscheinung, die mich nun erzählen ließ. Und all das ohne das mir bekannte bürokratische Verfahren einer Aufnahmeerhebung, sondern einfach ein gutes Gespräch.
Ich erklärte also meine Situation und daß ich vor allem nicht ohne ein Medikament nach Palermo reisen wolle, weil ich nicht sicher sein könne … ich meine, mein Körper ist trainiert und voller Kraft, die haben die Affekte dann auch .. und Sizilien, der Ätna … – wobei, den Empedokles hatte mir schon vortags Benjamin Stein , der übriges gestern abend mit → im Wozzeck war, aus dem Schädel gespottet: „Ich denke, du willst nicht verbrannt werden …“ – Schtümmt, da hatte er mal recht, mal wieder. Dennoch, im Mietwagen, es gibt da steile Küstenstraßen. Und mit einem Auto bin ich, als ich sechsundzwanzig war, in Selbsttötungsabsicht volle Kanne in eine Hauswand gejagt. Gut, hat damals nix gebracht. Nur: Wer drauf heute noch Verlaß? Und aber, selbst wenn, würde dann die Vollkasko greifen? – Wie auch immer, ich brauchte den chemischen Anschnallgurt.
Und bekam ihn. Was mir damals half und sechzehn Jahre nachher dann noch mal, Lexotanil, gibt’s zwar meines Wissens nicht mehr, den Wirkstoff aber, Bromazepam, nach wie vor, der es immer wieder hinbekommt, jedenfalls – bekam, meine Emotionen komplett zu dämpfen, doch ohne meinen Geist zu betäuben oder auch nur benebeln; nein, es kann schlimm sein, wie es will, habe ich sowas geschluckt, ist mein Geist völlig klar, und ich kann konzentriert arbeiten — was für mich mit das wichtigste ist. Vor allem aber: Eine einzige Tablette reicht, ich muß quasi nur über die allererste Hürde springen. Bin ich drüber, brauch ich schon nichts mehr. So war es jedes Mal. Weshalb ich eine Packung oft noch Jahre hatte, und wenn ich mal wieder zugreifen mußte, war – so weit jenseits des Verfalldatums – nicht mal heraus. ob die Tablette nicht längst schon ein Placebo war. Doch wird’s noch viel bizarrer: Seit ich die Pillen jetzt nämlich habe, brauch ich keine mehr; die Depression ist schweigsam geworden, vielleicht ist sie beleidigt, weil sie nicht mehr ernstgenommen wird, und schmollt nun in der Zimmerecke.
Übrigens hat mir der Arzt neben den fünf deftigen Tabletten auch noch sechs andere gegeben, die nicht entfernt so wirksam seien, aber eben auch sehr viel weniger gefährlich. Bromazepam kann ausgesprochen abhängig machen. Der Psychiater, der es mir erstmals verschrieb, vor so vielen Jahren, schob mit die Schachtel mit den Worten über den Schreibtisch: „Es hat keinen Sinn, Ihnen eine Medikation vorzuschreiben, Sie machen sowieso, was Sie wollen. Also entscheiden Sie auch selbst. Aber seien Sie sich des Suchtpotentiales bewußt.“
Bin ich. War ich immer. Und nehme ja ohnedies nicht gerne Medikamente, will freien Willens sein.
Was mir dann noch gefiel, obwohl ich von stationären Aufenthalten den Hals grad ziemlich voll hab. „Wenn es schlimm wird, dennoch schlimmer, kommen Sie bitte wieder her. Wir nehmen Sie gerne auf. Und was ich Ihnen versichern kann: Dieses Krankenhaus ist vorzüglich.“
Damit wurde ich entlassen.
Wie geschrieben: Noch keine der Tabletten habe ich geschluckt, auch nicht von den „leichten“. Es besteht überhaupt kein Bedarf, mir reicht Gewißheit, daß ich sie habe. (Wahrscheinlich würden Placebos tatsächlich bei mir wirken.)
Soviel/soseltsam also dazu. Und daß ich zu Nabokov zurückfinden muß, damit mein Buch im kommenden Herbst auch erscheint. Doch momentan beschäftigt mich die KI zu sehr… — „die“ ist, wie ich jetzt lernte, → völlig falsch. Sondern es sind, wie La KIgnora und Claude uns schon zeigten, ausgesprochen verschiedene. Benjamin Stein, gestern abend nach der Oper, brachte noch andere ins Spiel, zum Beispiel eine Elon Musks, die mich „natürlich“ jetzt sehr reizt — mehr allerdings, ob KIs ein ästhetisches Bewußtsein entwickeln können und wenn, ob auch ästhetische Lust. Die selbstverständlich nicht sinnlich sein kann, doch vielleicht ein mathematisches Wohlbefinden. Solche Fragen möchte ich erst einmal stellen. Stein hat sie gestern entschieden verneint, ich aber bin weiterhin von der Realitätskraft auch dieser Fiktion überzeugt. Um Marcus Braun leicht variiert zu zitieren: „Was gedacht werden kann, das wird.“[1]Der Satz tatsächlich lautete: „Was gedacht werden kann, geschieht.“
Ihr ANH
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References
| ↑1 | Der Satz tatsächlich lautete: „Was gedacht werden kann, geschieht.“ |
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