Arbeitsjournal. Donnerstag, der 18. Januar 2007. Köln und München. Darin: Eine Reise mit Kyrill.

8.51 Uhr:
[Köln. Hotel Königshof.]
Guten Morgen, Leser. Die >>>> Veranstaltung gestern abend ging lange; Meinecke las bis 21.30, ich dann bis 23 Uhr; alles incl. der Gespräche, die Thomas Böhm mit uns führte. Da ich dann erst sehr sehr spät einschlief und jetzt mal frühstücken will, bevor ich >>>> nach München weiterreise, erzähle ich Ihnen erst später davon; wahrscheinlich schreibe ich nachher im ICE. Ich hab mich, um d i e s e s zu tippen, auf den Hotelgang gesetzt, denn zwar hat das Zimmer und das ganze Hotel einen T-com-Hotspot, aber man hat mir ein Nichtraucherzimmer gegeben. Und ich hatte frühmorgens keinen Kaffee. Also schlief ich mal „aus“, was auch nicht ganz stimmt, da ich das Licht ja nicht vor drei Uhr in der Früh gelöscht habe, sondern mich noch durch die Programme zappte und registrierte, nach welchen Kategorien sich abends Frauen zum Telefonsex anbieten. Neben Russinnen und „ich liebe Französisch“ (am Telefon! ich meine, das ist eine ziemlich schmale, zudem höchst trockene Auffassung von Oralsex) war die schärfste Nummer „Rufe 070707 und verlange Oma“; dazu sah man eine alte Dame sich die linke Brustwarze lecken. Nein nein, ich weiß die Telefonnummer nicht mehr, habe eine hier hinfantasiert, um nicht den Rhythmus des Satzes zu stören. Erstaunlich bei allem die nach wie vor auch in Porno-Werbung obwaltende Scheu der Sender vor der Ausstellung primärer Geschlechtsorgane. Ich kam mir wie in Japan vor. Eine tolle Fantasieleistung kitzelt auch „Frauen in deiner Nachbarschaft wolln dich!“ Ebenfalls zum Telefonsex. Als spielte da Nachbarschaft eine Rolle. Dennoch scheint‘s die Fantasie zu entzünden, sonst wäre sowas nicht im Angebot.
Wegen gestern nacht noch: Ich weiß nicht, wie er heißt, aber einer der Hörer sagte beim Nachtessen („Wiener“ Schnitzel mit Bratkartoffeln, UF bekam als einziger noch ein Rumpsteak), als wir den Abend diskutierten: „Die Erzählung Meineckes und die Ihre verhalten sich zueinander wie die aufgeklärte griechische Polis zum Mythos.“ Das fand ich einen starken Satz, einen, der sehr viel begriffen hat, auch wenn Vergleiche i m m e r hinken.
Auch >>>> Stromberg war da, was mich sehr sehr gefreut hat. Und Norbert Wehr vom >>>> SCHREIBHEFT.
Weiteres später.

9.17 Uhr:
[Immer noch auf dem Hotelgang.]
Gerade durchforste ich meine Mails und finde Bilder, die Stromberg von der gesterigen Veranstaltung geschossen hat; er schreibt, „wenn sie mögen, für die Verwendung in Der Dschungel“. Dann stell ich Ihnen davo eben ein Hübsches ein.

(ANH mit Thomas Böhm.)
9.45 Uhr:
[Noch einmal der Gang. Nun aber n a c h dem Frühstück.]
Der >>>> Sturm bewegt die Gemüter des im Frühstücksraum laufenden Radios. Bereits die Geliebte erzählte heute morgen davon; ich hatte mal wieder von nix was mitbekommen. Nun werd ich sicherheitshalber schon früher nach München fahren, also den nächstmöglichen Zug nehmen, damit ich auf jeden Fall pünktlich ankomme; Verzögerungen scheinen eingeplant werden zu müssen. Irgendwie gefällt mir das. Es hat etwas von Monsun und Naturgewalt, es bringt das regulierte Leben, Regulatives überhaupt, durcheinander, es zeigt einem eine G e w a l t, in der ja auch Naturs c h ö p f u n g ist: Es konfrontiert einen mit G e f a h r, einer echten, die nicht nur aufgrund zivilisierter Regelungen Sanktionsmaßahme, sondern die jenseits jedes moralischen Einspruches ist, einfach i s t, also. Das ist mir näher als das ganze bürgerliche Sicherungs-Existieren, bei dem man immer auf Zehenspitzen gehen muß, um nicht den Nachbarn zu stören. Und wenn man an den N a m e n dieses Sturms denkt, „Kyrill“, dann brausen Fantasien daher, die aus dem mythischen Rußland stammen könnten. Nur daß es halt unwahrscheinlich warm ist für einen Winter. Die Geliebte erzählte, in der Nordsee seien bereits Mittelmeerfische gesichtet worden. „Auf Jütland wuchs für einige Zeit die Dattelpalme“ heißt es im Eingangskapitel von >>>> THETIS. (Ich merke gerade, wie e k l i g mir die unvitalen Dauer-Präservative sind, mit der uns die Zivilisation überzogen hat, wie wenig ich diese Art Trennung noch w i l l.)

Also ich pack mal zusammen und ziehe hinüber zum Bahnhof.

10.31 Uhr:
[ICE Köln-München.]
So liebt man das: Ich betrete den Bahnhof, fünf Minuten später fährt der ICE ab. Wenn alles gut geht und Kyrill den Zug nicht umwirft, werd ich bereits um 15.04 Uhr in München sein. Hab gerade versucht, Mamczak von Heyne zu erreichen, der mich kennenlernen wollte (ich habe seinerzeit über Philip K. Dick, dessen Werk in Deutschland Heyne ediert, mit ihm korrespondiert) und auch Interesse an ANDERSWELT zeigte, ohne den Romankoloß doch in einem „Publikumsverlag“ zu s e h e n. Wer aber kann vorher schon wissen, welche A r t von Zusammenarbeit nicht dennoch möglich wäre? Und Zeit genug i s t ja dann bis zur >>>> Veranstaltung in der Akademie. Sollte d a s Treffen nicht klappen, schau ich bei dtv vorbei.

Soeben >>>> über gestern abend geschrieben.

12.10 Uhr:
Der Zug fährt des Sturmes wegen mit verminderter Geschwindigkeit. So gibt es denn auch immer wieder stop-and-go-Situationen – wie jetzt, wo wir kurz vor Offenbach am Main auf der Strecke stehen, ein Personenruf durchgegeben wird und sich alles in Stoik übt. Wie gesagt, mir gefällt‘s. Ich will nur morgen vormittag wieder zurück in Berlin sein, um der Geliebten zur Seite zu stehen.
Hab mich entschieden, die Fahrtzeit für Die Dschungel zu nutzen; an ARGO gehe ich dann ab morgen.

„Meine Damen und Herren, wegen eines umgestürzten Baumes ist unsere Stromverbindung derzeit unterbrochen und wir können die Fahrt nicht fortsetzen. Das bleibt auch auf unabsehbare Zeit so. Wir können Ihnen momentan gar nichts weiter sagen.“Hübsch dabei, daß es sofort jemanden gibt, der murrt. „Immer, wenn ich mit der Deutschen Bahn fahre, komme ich zu spät.“ Ich, auflachend: „Also diesen Sturm können Sie der Bahn nun wirklich nicht anlasten. Es geht doch alles sehr zivilisiert vor. Sein Sie mal in Bombay, wenn Monsun ist.“ Daraufhin lachen die Mitreisenden fast erlöst auf.

Só, nun ist auch das Licht ausgefallen. Nun wird‘s, sagte meine Nachbarin, richtig heimelig hier. *Lacht.

12.37 Uhr:
[Immer noch auf der Strecke stehend.]
Also wenn sich der Zug bewegt, dann wackelt er. Will sagen: er bewegt sich zur Seite, nicht nach vorn. Und der Zugführer revidiert seine Aussage wegen des umgestürzten Baumes, der sei nicht auf eine Oberleitung, sondern auf den Zug gefallen – was aber irgendwie nicht stimmen kann; wir hätten davon nun wirklich was bemerkt. Immerhin bleibt unsere Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit unbestimmt, lacht. In mir kollert die Freude, auch wenn ich möglicherweise heute abend nicht mitmachen kann und also Honorar verliere. Und Fantasien jagen durch mich durch: wie wir armen Zugbrüchigen inmitten des dunkelsten Spessarts hinaus und in den Sturm müssen, wie wir uns durchkämpfen, endlich mal wieder von Ungeheuern und nicht dem BGB bedroht… Es ist da durchaus etwas von Schadenfreude in mir, tanzender Schadenfreud, die auch Selbstschädigung in Kauf nehmen will – und ich merke, welch eine W u t ich ganz offenbar auf bürgerliche rules and regulations habe. Plötzlich ist mir mein toter Vater wieder so nah, der mit der ganzen Gesellschaft nichts, aber auch gar nicht mehr zu schaffen haben wollte und für die letzten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens eine Emeritage in der Steinwüste wählte.
Upps, wir f a h r e n. Der Strom geht au c h wieder.

Ich werd jetzt auf jeden Fall den Nachtzug von München nach Berlin zurück nehmen oder wenigstens den 5.00er ICE, je nach Lage des Sturms. Die Kinder kommen morgen aus der Klinik nach Hause, da will ich unbedingt dabeisein.

Wir rollen jetzt in Hanau ein; dort werde unser Stromabnehmer untersucht, auf daß wir – „hoffentlich“, sagte der Zugführer eben – die Fahrt in Richtung Würzburg fortsetzen können.

13.09 Uhr:
Licht ist zurück, die Türen haben sich geschlossen. LH schreibt mir (witzig, daß bei alledem übers Mobilchen der Netzzugang noch funktioniert):Der Sturm fasziniert mich – ich geniesse gerade zu die Gewalt der Natur. Es erregt mich.Und mich erfüllt es mit Befriedigung darüber, daß n i c h t alles planbar ist. Wobei ja alles höchst gemäßigt vor sich geht… man muß sich einfach mal vorstellen, daß offenbar tatsächlich während der Fahrt ein Baum auf den Stromabnehmer des ICEs gestürzt ist und wir Reisenden davon außer der Fahrtunterbrechung gar nichts mitbekommen haben. Zivilisation hat was von einem Kokon, in dem man herumschwingt, indes draußen die Windsbräute blasen… ah, d a s ist Oralverkehr. Ich gebe zu: Ich hoffe, es ist mit den Geschehnissen noch nicht zu Ende. Offenbar muß ich dringend mal wieder auf einen Vulkan kraxeln, und daß es eine Freundin und Kollegin von mir, nämlich ausgerechnet >>>> Kerstin Tomiak ——-

13.29 Uhr:
—– wir mußten den Zug wechseln… der Stromabnehmer ist definitiv kaputt.
Nun bin ich im zweiten ICE und stell mir vor, es könne die e r s t e Etappe eines Staffellaufs verschiedenster ICEs sein… wobei die Möglichkeit mit der Zugbrüchigen-Spessart-Expedition ja noch offen ist. Während wir jetzt einigermaßen rasen, hat der Zug richtig Seegang… ich denk mir, bald kotzen die ersten – und ich hab solch ein Gefühl von Befriedigung dabei! Und was die Leute schimpfen auf die armen Schaffner – als hätte die Deutsche Bahn diesen Sturm selbst synthetisiert, und zwar, um Reisende zu quälen… da geht‘s dann in mir durch und ich denke: T a g e sollen die festsitzen, W o c h e n, ohne Essen, sondern das müssen sie sich selber schießen, wenn sie denn was kauen wollen. Ich hab solch eine Verachtung für diese Zivilisationskörper! Das bricht gerade alles in mir durch, ist aber von so viel Belustigung und Freude durchsetzt, daß eine Schaffnerin aufatmend seufzte – ich erkletterte gerade von einer Grasnarbe (!) aus den Zug und half anderen, ihr Gepäck hochzukriegen – : „Ach endlich einmal ein Mensch, der lacht…“
—–
also daß es ausgerechnet Kerstin als Berichterstatterin nach Afghanistan verschlagen hat, erfüllt mich mit starkem Fernweh…

14.05 Uhr:
Jetzt muß ich noch einmal in Würzburg umsteigen, um den nächsten direkten Zug nach München zu bekommen. Ruhe und Gelassenheit sind eingekehrt, aber aus der Villa Concordia erreicht mich die Bitte, ich möge doch die Übersetzungen der Gedichte Kevin MacNeils, die ich heute abend mit vorgetragen hätte, abtippen und, wenn irgend möglich, hinübermailen – damit, falls ich nun doch sturmeshalber im kyrillzerpeitschten Spessart auf Jagd gehen müßte, Herr Dr. Goldmann diesen kleinen Vortrag übernehmen kann.
Und eine SMS von der FAZ: „Wir haben d o c h sehr viel Text. Deshalb bitte nur 55 Zeilen à 33.“ Ich antworte: „Ähm… aber schreiben soll ich dennoch? Gruß aus dem Herzen Kyrills.“ Darauf die FAZ: „Undingt!“ Wieder ich: „Gebongt. – Dieser ICE bewegt sich wie ein Segler auf See. Toll ist das!“ Woraufhin die nächste SMS besorgt fragt, ob das ratsam sei, heute noch von Berlin nach Köln zu fahren… das müsse der Redakteur eigentlich nämlich. Ich: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, zweidreimal den Zug zu wechseln…“ Von nächtlichem Camping hab ich, um ihn nicht n o c h mehr zu beruhigen, nichts gesagt.

14.52 Uhr:
[ICE Würzburg-Berlin.]
Was bin ich, wenn ich so etwas höre, zärtlich gestimmt!Meine Damen und Herren, aufgrund schwerer Sturmschäden im gesamten Bundesgebiet haben wir derzeit leider eine Verspätung von 44 Minuten. Wir bitten, das zu entschuldigen.W a s denn entschuldigen? frage ich mich… 44 Minuten, ja wie furchtbar! (Und ich hoffe immer noch auf eine radikale Unpassierbarkeit der Strecke, auf Nacht- und Fluchtcamps, Plünderungen von an der Strecke liegenden Tanken: nur um Kaffee und ein paar Töpfe und um belegte Schnitten, um Decken vielleicht noch für die Nacht… 44 Minuten… also das hat s o eine Komik! Wenigstens s c h ü t t e l t sich auch dieser ICE; schön wäre, gäbe es wie bei Flügen durch unruhiges Wetter Luftlöcher, in die man mal von Zeit zu Zeit hinunterplumpste. – Übrigens ist das für die Telekom ganz sicher d e r Tag, umsatzmäßig, mein‘ ich. Auf d i e schimpft heute aber keiner. Dabei wär die Vermutung, d i e habe den Sturm in Auftrag gegeben, sehr viel näherliegend, als sowas von der armen Bahn anzunehmen. Morgen – wahrscheinlich heute schon – wird man das auf den Aktienmärkten angucken können.)
Gut, ich werde nun wohl doch früh genug in München ankommen (schade schade schade); aber sicherheitshalber tipp ich eben MacNeils Gedichte für die Akademie ab und schick sie raus….
ähm… juchhu! wir stehen wieder auf feier Strecke… nein, noch nicht, aber bewegen uns mit Fahrradtempo. Eine meiner absoluten Lieblingsarien, eine Filmemacherin unterlegte sie mir mal in einem TV-Portrait für Klagenfurt:Voglio strage, e sangue voglio!
Graun, Cäsar in Cesare e Cleopatra.

17.09 Uhr:
[München Hauptbahnhof. DB-Lounge.]
Bestens angekommen. Geramelt voll ist‘s hier. Jetzt guck ich, wie ich zur >>>> Akademie komm. Und oan Hunga hoab i!!!

>>>>> KYRILL. Der Zweite Tag.

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Donnerstag, der 18. Januar 2007. Köln und München. Darin: Eine Reise mit Kyrill.

  1. windsbraut lieber Alban,

    Danke dir, es war ein wirklich schöner Abend, anregend und amüsant dazu.
    Ich kann dir die Begeisterung für die Ausnahmesituation so gut nachempfinden und die sexuelle Konnotation von Wind liegt ja auf der Hand, in der Luft, das himmlische Kind, ganz zu schweigen von der Musikliteratur, die ein Lied davon pfeifen kann…
    Wünsche dir eine gute Veranstaltung in München

    herzlich
    Bettina

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