4.5 Uhr:
[Berlin. Küchentisch.]
Vier Stunden geschlafen, jetzt wie ein Rasender an die Übertragung der Korrekturen; fast ist Teil III ARGO gestern mit den Erstkorrekturen fertiggeworden, es fehlt nur noch ein Kapitel. Ich muß so viel wie möglich schaffen heut früh/vormittag, damit ich den Roman heut pünktlich beim LCB abgeben kann. Es sind bis dahin ja fast eine Stunde S-Bahn-Fahrt. Um 16 Uhr muß ich zurücksein, um den Jungen abzuholen; immerhin bringt heut früh die Geliebte ihn zu Schule, so daß ich etwas Luft habe. Auch wenn es Preßluft ist. Ich habe in das Typoskript fast jeden Satz neu hineingeschrieben.
13.49 Uhr:
Bis eben voll durchgearbeitet, zwei Toasts gegessen, sonst nur Schokolade. Aber die Erstkorrekturen ARGO von EF zur ZF sind, soweit ich sie hatte, übertragen, nämlich bis zur S. 619 von 862, wobei da Teil V noch fehlt, die epilogische Rhapsodie.
Jedenfalls alles ausgedruckt, und so sieht‘s nun aus (UF bat um ein Bild), was ich nachher im LCB abgeben werde:Ich nehme den Jungen mit, dann komm ich nicht in Zeitprobleme. Vielleicht schaff ich sogar noch den Mittagsschlaf.
18.08 Uhr:
Ich hab ihn n i c h t geschafft. Aber sonst alles erledigt. Im >>>> LCB war der Chefetagen-Empfang, wie zu erwarten, locker bis frostig; ich blieb in der Tür stehen, Janetzki (wer einen Eindruck der literarbetrieblichen Vefilzung bekommen möchte, sollte >>>> hier einmal den Links folgen)… Janetzki also hing in seinem Sitz und stand nicht auf, um mir die Hand zu geben – was ein Vorteil war, weil er einem, jedenfalls oft, sonst auf die Lippen küßt; mein Siebenjähriger erfaßte die Sitation sofort, gurgelte ein „Hi“ in den Raum und peste nach draußen von dannen. >>>>> Becker, der den ARGO-Packen entgegennahm, war höflich reserviert, meinte allerdings: „Oh, das ist aber ein dicker Roman“ – als wäre sowas neu bei mir. Seit ich in Berlin bin, gebe ich immer wieder Texte bei solchen Wettbewerben ab, also begleitet ANDERSWELT diese Stadt und ihre literarischen Institutionen seit 1994. Im LCB ist das Projekt sowieso gut bekannt, 1997 war ich mal als einer der ersten zehn Döblin-Kandidaten zu einem Diskusson-Lesen geladen. Dann kippte das Verhältnis zur LCB-Leitung dauerhaft. Den Hintergrund erzähl ich Ihnen hierunter. Jedenfalls hieß es in einer Berliner Jury sowas um 2005: „Herbst ist ein guter Exposé-Schreiber, nur einen ganzen Roman kriegt er nicht hin.“ Das sagte ein Juror, der es – nach WOLPERTINGER und THETIS – wahrlich hätte besser wissen können. Und sicher besser w u ß t e. Beckers Überraschung über das neue dicke Buch paßt in diese Richtung ganz trefflich.
Also der Hintergrund. Sowas um ebenfalls 1997 wurden ein paar Autoren gebeten, schwedische Kollegen in einer öffentlichen LCB-Veranstaltung vorzustellen. Einige von denen waren übersetzt, andere noch nicht. Auf deutscher Seite waren u. a. Durs Grünbein, Thomas Hettche, Robert Menasse und ich selbst dabei. Die drei anderen bekamen bereits übersetzte Autoren, mir wurde einer zugeschlagen, den es nur auf Schwedisch zu lesen gab. Nuhn kann ich kein Schwedisch, weshalb man mir zusicherte, ich bekäme in Kürze eine Rohübersetzung. So weit, so schon mal schlecht. Noch drei Tage vor der Veranstaltung hatte ich diese Rohübesetzung nicht; man sagte mir, ich solle doch aufgrund der englischsprachigen Kritiken referieren. Das verweigerte ich. Wenn, dann mach ich mir mein eigenes Bild. Oder laß es g a n z sein.
Am Nachmittag vor der Veranstaltung war die Rohübersetzung dann da. Ich war ziemlich entsetzt. Man hatte mir, einem eingeschworenen Gegner des literarischen Realismus‘, einen extrem naiven Realisten zugefügt. Wie sollte ich damit jetzt umgehen? Ich schrieb einen Text, der sich auf das freundlichste , ja freundschaftlichste mit diesem Autor beschäftigte, zugleich aber meine eigene Position deutlich machte. Den trug ich dann vor. Daraufhin griff mich das Auditorium heftig an: Wie ich denn, wenn ich selbst so anderer Meinung sei, einen solchen Autor zur Betreuung überhaupt hätte annehmen können? Woraufhin ich ganz offen die Geschichte erzählte. Was dann wieder die LCB-Leitung wütend machte: ich dürfe doch solche Interna nicht erzählen… Das, Sie wissen es, sehe ich prinzipiell anders. Wo Schlamperei i s t, muß man sie nennen. Corpsgeist ist nicht mein Ding. (Wieder Kühlmann fällt mir ein, der, als er mich das erste Mal sah, mich mit den Worten begrüßte: „Ich weiß, weshalb der Betrieb Sie nicht mag, ich muß Sie dazu nur ansehn: Sie haben keinen Stallgeruch.“)
Im Rahmen der gleichen Veranstaltung im LCB gab es nachmittags eine Diskussionsrunde. Ein genialischer, mir eigentlich in seiner Leidenschaft alles andere als unangenehmer schwedischer Autor, der seiner Romane wegen nach Berlin eingeladen worden war, ließ sich des langen und breiten dahin aus, daß die Zeit der Romane vorbei und daß die Romanform eine langweilige und überflüssige sei. Kurz: Er schwang sich neben Breton, schrieb aber dennoch Romane weiter. Daraufhin ich: „Ja, wenn Sie das so finden, warum schreiben Sie sie dann? Und ich hätte dann an Ihrer Stelle auch nicht gerade eine Einladung mit Vollverpflegung ins Ausland angenommen.“ – Diese Bemerkung verübelte mir >>>> Thomas Steinfeld, heute Literaturchef der Süddeutschen, damals noch livriert unter Seibt. Er schrieb dann in der FAZ über dieselbe Veranstaltung, an der er organisierend stark mitgewirkt hatte, und warf mir öffenlich meine schlechte Kinderstube vor. Worauf ich persönlich-schriftlich antwortete, es sei nicht Aufgabe eines Schriftstellers, eine gute Kinderstube vorzuführen, sondern er sei allein seiner Arbeit und der literarischen Wahrheit verpflichtet.
So viel einmal dazu. Ich bekomme gerade Lust, meinen alten Text über diesen schwedische Autor herauszusuchen und ihn Ihnen gelegentlich auf die entsprechende Seite bei den Fiktionären zu stellen. Nur ist er auf irgend einer alten Diskette gebunkert, von der ich nicht einmal weiß, ob mein Laptop die überhaupt noch lesen kann. Menasse sagte spöttisch zu diesem Text „Du hast dich wie ein Thomas Mann vor deinen Autor gestellt.“ Wahrscheinlich trifft‘s das genau und zeigt die Schwächen wie die Stärken. Und beide nimmt man mir krumm.