Arbeitsjournal. Freitag, der 17. November 2006. Berlin. Bamberg.

Um fünf auf, aber auch erst um halb zwei im Bett gewesen. Die Augen brennen ziemlich nach diesen nur drei Stunden Schlaf. Doch endlich hatte es mal wieder mit dem Profi und mir geklappt, und lange saßen wir wieder einmal in der Lützowbar und sprachen. Auch er meint, >>>> das hätte ich nun nicht unbedingt in Der Dschungel veröffentlichen müssen, wir diskutierten drüber, wieder ging es um Privatheit, mit der ich ganz offensichtlich prinzipielle Schwierigkeiten habe; ich kann ihren Wert eigentlich nicht erfassen. Was vielleicht daran liegt, daß ich früh, schon so mit vierzehn, begann, die privaten Schrecken in Erzählungen umzuformen und dies bereits ganz zu Anfang mit dem Willen zur Veröffentlichung. Es war mir, und ist es mir vielleicht immer noch, so, als wäre die Verlautbarung von etwas, gegen das es sich nicht wehren läßt, schon der erste Schritt, sich dennoch zu wehren, als hielte Öffentlichkeit ein heilendes Medikament parat. Im übrigen war es mir, ich weiß das noch sehr genau, gar nicht anders möglich, ein Ich herzustellen, das nicht an den Konturen bis fast ins Zentrum völlig zerfloß: Hatte ich eine Erzählung fertig, und las ich sie vor (später: veröffentlichte ich sie), dann war mit einem Mal dieses permanente Zerfließen zur Ruhe gekommen, und es stand etwas da, von dem ich, wie bei einem Blick in den Spiegel, sagen konnte: Es g i b t mich, denn ich sehe Spuren.
Mit dem Namenswechsel wurde der Prozeß bewußt, aber er härtete sich auch aus; mir war, symbolisch gesprochen, ‚verboten’, unter meinem tatsächlichen Namen zu veröffentlichen (in der Tat, kaum hatte ich den Namen gewechselt, bekam ich für Prosa den ersten Vertrag; mit denselben Texten hatte ich jahrelang unter dem Geburtsnamen völlig vergeblich darum gekämpft; >>>> Arno Münsters Prognose traf gerade unmittelbar zu, nachdem ich seinem Rat gefolgt war, den NS-belasteten Namen abzulegen – die Freunde mich ihm folgen ließen, s o ist es richtig; denn das ANH stammt ja nicht von mir; ich selber zauderte und zauderte damals). Dieses symbolische Verbot hatte jedenfalls a u c h etwas von Selbst-Verbot (wie übrigens das verbotene Buch dann abermals; ich erzähle darin ja – verwandelt – meine Herkunftsgeschichte als diejenige des Malers Fichte m i t; das wurde dann genau so untersagt, wie mir mein Geburtsname als etwas untersagt worden ist, womit ich das schaffen könne, was ich wollte und tat: Kunst). Indessen war Alban Nikolai Herbst von allem Anfang an, also seit ich 24 Jahre alt war, auf Kunst und Veröffentlichung hin entworfen; erst viele Jahre später, mit der Geburt meines Sohnes, kam der alte Name für mich in die Reichweite eines Tragbaren zurück, das nun auch getragen werden m u ß t e. Und muß. Ich werde das zukünftig immer deutlicher zu einem Teil meiner Arbeit machen, >>>> Rückeroberung seines Namens als Rückeroberung seiner Identität. Das hat insofern literarische Valenz, als es eng an die Geschichte Deutschlands geknüpft ist und Prozesse erhellt, die in den Siebzigern und auch noch Achtzigern im psychoanalytischen Sinn verdrängend liefen und als Verdrängtes gesellschaftlich weiterwirken. Wird so etwas ans Private geknüpft, hat das etwas von einem Tabubruch.
Also wundert es mich eigentlich nicht, daß sich da nahezu Haß auf mich entlädt; eben, weil ich mal wieder etwas getan habe, das „sich nicht gehört“. Selbstverständlich ist gerade d i e s e Angelegenheit eine für mich traumatisch besetzte, und zwar nicht nur meines Vaters wegen, sondern weil Kritik an meinem Werk immer Kritik an mir als Person i s t, weil, wenn so deftig gesagt wird: Sie sind kein Dichter, immer mitgesagt wird: Sie sind kein Ich, Sie sind gar nicht. Das geht mir schon bei Kritik so, die konstruktiv ist und hinweisen und helfen will. Daß ich mich dem dennoch aussetze, ist klar, und hinterher bin ich oft dankbar und will sie ja auch, das Bewußtsein will sie, das Unbewußte hingegen kocht fast immer sofort abwehrend hoch. Ich weiß das, l a s s e hochkochen, fange mich und geh’s an. Anders bei destruktiver Kritik, die tatsächlich vernichten will. Ich sehe ihren Impuls ebenfalls sehr wohl, aber ich kann sie definitiv nicht an mir abfließen lassen, sondern m u ß reagieren. Auch das war schon früh so. Es ist immer, als bedrohte mich jemand mit einem Schlagstock, ja als hätte er schon zugeschlagen. Und ich wehre mich dann. Ist er stärker, verliere ich; damit komme ich besser klar, als mich, ohne mich zu wehren, verhauen zu lassen. Im Kampf zu verlieren, läßt die Selbstachtung intakt.
Manchmal arbeite ich an einer Strategie, mich zu wehren, über Jahre; Anlaß können ganz kleine hämische Artikel sein, von irgendwem, selbst solche Briefe wie die von Frau L. Es gibt Kritiken, vor bald zwei Jahrzehnten gegen mich publiziert, die bis heute im Fleisch brennen: wie offene Rechnungen, die ich eines Tages schließen werde. Interessanterweise macht es für mein Gefühl dabei überhaupt keinen Unterschied, ob eine solche Kritik im deutschlandweiten Feuilleton der FAZ oder im Hintertupfinger Meinungsblatt für die hinterstbayerische Schlachtersgattin erschien. „Weißt du“, sagte ich gestern nacht dem Profi, „hätte Frau L. einfach nur geschrieben: ‚danke für den Text, aber ich kann damit nicht viel anfangen’, ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, diese Auszüge aus dem Brief zu veröffentlichen. Aber sie hat die Dichtung-selbst diskriminiert, und da Dichtung per se öffentlich i s t, gehört auch die Attacke in die Öffentlichkeit. Abgesehen davon, daß, wenn mich jemand privat mit einer Waffe bedroht, ich das ja wohl a u c h öffentlich machen können darf, oder würde dann a u c h gesagt: ‚Das ist eine Privatangelegenheit’? Meines Wissens ist selbst für versuchte Körperverletzung der Staatsanwalt zuständig, also der Träger eines ö f f e n t l i c h e n Amtes.“ Dieses Argument sah er ein.
Insgesamt erstaunt mich allerdings dieses Maß an mangelnder Empathie, etwa seitens >>>> ferromontes. Und es erstaunt mich die Empathie mit Frau L., diese seltsame Solidarität mit einer Frau, die ganz offensichtlich verletzen wollte. Es scheint nicht d a s gesehen zu werden, sondern der Gewaltakt, der sich durch die Publizierung gegen sie gewendet hat. Abermals wird hier etwas deutlich, das die bürgerliche Gesellschaft immer schon bestimmt hat: der Angegriffene soll höflich schweigen, siehe ‚geschlagener Hund’; dem nimmt man übel, daß er bellt, wenn man ihn schlug; den Schläger hingegen nimmt man in Schutz. Daß das sprichwörtlich wurde, ist mehr als nur ein Indiz. Daß sich gerade im Zusammenhang mit >>>> der zwölften Elegie Privates ganz natürlicherweise mit dem objektivierenden Anteil von Kunst vermischt, scheint mir im übrigen viel zu offensichtlich zu sein, als daß da irgendwas Sonderbares liegen könnte. Dennoch, mir ging es über den Abend ziemlich furchtbar. Und heimgekehrt, nachts, schrieb ich an LH und meinte das auch so:

Sag mal, sind meine Dichtungen wirklich so schlecht? Ich hab grad den Impuls, alles hinzuwerfen. Mich bringen Anwürfe wie die von dieser Frau **** und von Steuerparadies immer völlig aus der Sicherheit und machen Depression.
Es geht mir scheiße gerade.

Sage mir bitte keiner, daß so etwas n i c h t in ein Arbeitsjournal gehöre… (und interessant ist, ferner, daß solche Leute wie >>>> Steuerparadies immer dann in Der Dschungel die Stimme erheben, wenn Kritik an mir und meiner Arbeit laut wird; da stellen sie sich sofort mit in die Reihe und rufen: Kreuzigen! Es scheint also so zu sein, als ob sie dauernd Die Dschungel, die sie ablehnen, l e s e n. Welch ein Maß von Masochismus muß da in ihnen sein! Sie könnten diese Seiten doch auch einfach ignorieren.)

Ich schreibe viel heute früh, vieles h i e r. Das legt daran, daß ich nach dem Abschluß der Elegie-Rohlinge eigentlich gar nicht so recht weiß, was ich tun soll. Ich bin etwas desorientiert. Einerseits ginge ich gerne sofort an die Überarbeitung, andererseits weiß ich, daß jetzt Distanz not tut, ein Abhängen der Texte, und ich sollte mich umgehend an die >>>> THETIS-Lektüre machen, die, wie auch die des >>>> BUENOS AIRES–Buches, der Überarbeitung von ARGO vorausgehen muß. Ich hab aber noch nicht recht den Kopf dazu.

Prunier hat gestern die Übersetzungen der Liebesgedichte geschickt, die im Frühjahr 2007 erscheinen werden; ich hab sie an >>>> Dielmann weitergesandt, der sehr einverstanden zu sein scheint. Nur zwei Gedichte, sagt er, fielen heraus, formal, in ihrem poetischen Ansatz – und nörgelt ein bißchen.

Ah ja, da die Geliebte heute und morgen abends verabredet ist, fahr ich mit dem Jungen heute mittag nach Bamberg; er möchte gerne, ja strahlte geradezu, als ich’s ihm vorschlug. Und er war ja nun lang nicht mehr da. Ich hoffe nur, daß das Wetter einigermaßen hält. Am Sonntag mittag werden wir dann wieder zurückfahren.

15.37 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg, hinter Leipzig.]
Der Junge ist eingeschlafen im Kinderabteil, nach etwas Hausaufgaben, die wir zusammen bestritten; auch ich döste ein paar Momente. Seit ich dann wieder wach war, lese ich in den Dateien der Ersten Fassung von >>>> ARGO und bin ganz erstaunt, mit welcher Präsenz das erzählt ist, wie geschmeidig die Sätze laufen, wie klar konturiert einen die Charactere ansehen. Wirklich überraschend für mich. Ich habe also diese Arbeit wieder aufgenommen; heute abend werde ich die >>>> THETIS-Lektüre beginnen und dabei immer wieder Notate dazu, vielleicht auch einzelne Zitate, an denen ich basteln will, in Die Dschungel stellen. Es könnte auch sein, daß ich mich immer mal wieder entschließe, Ihnen Hintergründe für einzelne Szenen zu erklären – mir eben auch selbst wieder bewußt zu machen, damit alles dann ganz gegenwärtig ist, wenn ich an die Überarbeitung zur Zweiten Fassung ARGO gehen werde.
Gleichzeitig wirken in mir >>>> aufgrund dieses Briefwechsels und der auf ihn gefolgten Kommentare enorm die Frage nach Herkunft nach und weiter. „Ich will“, sagte ich gestern abend dem Profi, „daß mein Sohn weiß, woher er stammt, zu welcher Familie er gehört und daß er in einem nie unterbrochenen Zeitfluß steht – daß es eine Täuschung ist zu vermeiden, man sei von Wurzeln frei. Man kann sich neue schaffen, ja, aber immer nur weitere, nur Wurzeln dazu.“ Es ist von großer Wichtigkeit, finde ich, daß er auch seine indischen Wurzeln kennenlernt.; Flüchtlinge sind wir alle irgendwie, aber behalten wir nicht etwas von dem in uns, woher wir kamen, dann haben wir nichts, das sich mit dem anderen verbinden könnte; dann ist kulturelle Synergie unmöglich.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .