Paul Reichenbachs Dienstag, der 24.Oktober 2006. Periplus.

Aber Karten sind manchmal faszinierend.
Sind sie doch selbst schon Projektionen.

B r u n o Lampe am 23.10.2006

Periplus, die Seekarte der Antike, orientiert an der Küste, wie diese sich vom fahrenden Schiff ausnahm – im Gegensatz zu unseren Karten, welche das Land von oben, also von einer objektiven statischen Warte aus sehen. Gestern war so ein Tag, wo die Umrisse, die Küsten meines Lebens von mir umschifft wurden. Um es vorweg zu sagen, Kapitän war ich nicht und Steuermann nur dem schönen Schein nach. Und wer mich als Galeerensklave sieht, irrt auch. Eine solche Sicht ist schon deshalb falsch, weil ich mich nie mit einer Opferrolle, die auf Kommando das Ruder schlägt, abgefunden habe. Eher bin ich ein blinder Passagier, der sich an Bord schmuggelte, den man ertappte und zur Strafe an den Mast fesselte.Aus dieser Perspektive seh ich mein Lebensschiff an Küsten, Stränden und Klippen der Zeit vorbeisegeln, ohne Einfluss auf den Kurs nehmen zu können. In jungen Jahren angetreten die Welt zu verbessern, muss ich heute konstatieren: Ein an den Mast Gebundener kann nichts ändern. Alle Aktivität erschöpft sich in der Betrachtung, meine ich heute. Die Begattung des Himmels und der Erde durch Regen, Schnee und Sonnenlicht, die sich in den Zuckungen des Liebesaktes von Frau und Mann widerspiegelt, erlebt der in Seile Geknotete als distanzierte Anschauung. Das Gewusel der Welt, das lockende Singen der Sirenen hat aus ihm keinen Entfesselungskünstler werden lassen und verstehbar ist, dass für Andere in ähnlicher Lage Houdinis oder Sloterdijks göttergleich werden . Die Verführung zur Freiheit ist, wie alle Verführung, auf Betrug angelegt. Und dass ein Harry Potter Furore macht, verrät mehr über das Empfinden determinierter Gefangenschaft im Hier und Jetzt seiner Fans, als sie es sich eingestehen können. Das Sprichwort “Geld macht nicht glücklich”, ich bin im Moment etwas kanpp bei Kasse, und insofern fest an einem Mangel gezurrt, der nicht einmal bloßes Anschauen erlaubt; also dieses Sprichwort wage ich zu bezweifeln.
Das Glück der Ästhetik will den “Schein”. Und wo ein Galeriebesuch 20 Euro oder ein Opernbesuch gar 60 Euro kostet spürt man die in die Muskeln einschneidenden Taue besonders schmerzhaft. Aber zum Jammern besteht kein Anlass. Die Welt vom Schiff aus betrachtet ist manchmal auch angenehm. An meiner Pinnwand hängt ein Auszug aus Villons Testament: Das Leben ist nun einmal so,
es macht uns nur von außen manchmal froh.
Es war Tizian, der in seinem Bild von der Liebe der Danae den goldenen Regen in ihrem Schoß zynisch als einen Regen von Goldtalern gemalt hat.
Ich verliere mich…

P:S. H i e r kann man die ganze Ballade lesen

7 thoughts on “Paul Reichenbachs Dienstag, der 24.Oktober 2006. Periplus.

  1. Mein lieber Reichenbach, Sie sind aber heute schlecht drauf. Ein Satz wie dieser, stimmt einfach nicht:
    Die Verführung zur Freiheit ist, wie alle Verführung, auf Betrug angelegt.
    Er ist zu absolut. Verführung hat positive, lustvolle Seiten, denken Sie doch einmal an den Satz Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen, wurden Sie da nicht verführt weiter zu lesen ? Ich will hier gar nicht die Erzählungsanfänge in “Niedertracht der Musik” Ihres Hausherrn bemühen, die allesamt zur Lektüre verlocken. Und dann die Liebe: Ist es nicht wunderschön verführt zu werden und verführen zu können.? Ich hoffe für Sie, dass Ihre Äußerung einer Tageslaune geschuldet ist.

    1. Ihr Possesivpronomen in der Anrede können Sie sich sparen. Mein und Dein
      in Korrespondenzen sind mir ein Greuel. Aber sonst räume ich Ihnen gern ein, dass der “Verführungssatz” zu einseitig, zu wenig dialektisch geraten ist.

    2. Gelten ließe ich aber unbedingt: “Die Verführung zur Freiheit ist auf Betrug angelegt.” Denn so ist der Satz nicht mehr absolut, sondern sehr wahr. Was “alle Verführung” anbetrifft, so hätte auch ich meine Zweifel. Vielleicht könnte man sagen, daß alle Verführung in eine Unfreiheit führt. Das mag vielleicht dialektisch genug sein, um auch der Sucht gerecht zu werden.

  2. Tageslaune? Einfach wäre es ja, den Eintrag einer herbstlichen Befindlichkeit in ihrer depressiven Ausformung zuzuordnen; aber außer der betrügerischen Verführung zur Freiheit (weil sie nur scheinbar zur Freiheit führt? Und welcher Freiheit – der von oder der für etwas? Und macht nicht Verführung als Betrug und damit der Betrug selbst das Leben erst erträglich? Ist nicht das Festgezurrtsein mit der damit verbundenen Nötigung zum Blick auf Wahrheit ein nur mit ständigem Loslassen [klingt wie ein Paradoxon] erträglicher Zustand?), außer diesem einen Satz also ist da noch dieses
    Nicht einmal bloßes Anschauen …
    Was aber soll mir “bloßes” Anschauen, wenn dieses bloß bereits selbst Mangel ist , nicht mehr als ein nur und somit aus dem Anschauen auch keine Erfüllung macht? Was ist mit dem Reichtum an Inventionskraft, den ich dem Mangel, der mich am bloßen Anschauen hindert, entgegensetzen kann?

    Ich erhielt heute eine Mail der hiesigen Stadtwerke, in der sie sich für die Unpässlichkeiten des Kabelnetzes, die durch intensive Baumaßnahmen zwecks optimiertem Datenfluß zustandekamen, entschuldigten, und kündigten eine Befreiung der Grundgebühr für den Dezember an: das nehm ich mir doch sogleich als Anlass, noch genussvoller als sonst ohnehin sämtliche Vorteile einer permanenten Netzpräsenz zu nützen, bin ich doch auch derzeit in einer ähnlich prekären Mangelsituation.

    1. Es mag an der Jahreszeit liegen, dass der Reichtum an Inventionskraft von der Resignation in Schach gehalten wird. Aber nicht nur. Die Einsicht, dass Freiheit von etwas oder zu etwas hin zu spät kommt, ist schwer zu verarbeiten. Musik ist da hilfreich. Auch die Geige gewinnt in diesem Zusammenhang für mich zunehmend an Bedeutung, selbst wenn sie 1000x mit leichten Fehlern gespielt wird;. so habe ich Probleme mit der Koordination, die sich hoffentlich mit der Zeit geben.

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