Arbeitsjournal. Dienstag, der 26. September 2006.

7.16 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
„Wenn ich nicht mehr anrufe, dann bin ich vor die Tür des Allmächtigen getreten.“ Tatsächlich, das ist der letzte Satz, den ich, bevor ich aufwachte, sprach. Ins Telefon. Zur Geliebten. Eine Maschinenpistole unterm Arm. Diese ganz sicher ein Verarbeitungsrest der Spielfilme, die ich gestern abend am Laptop sah, um mich vom verkrampften Herumdenken am Libera me in PETTERSSON abzulenken. Vielleicht wollte ich wieder den Prozeß in Gang setzen, den das Engelsgedicht freibrachte. Es gibt bei Edgar Poe eine Stelle, die sehr genau bezeichnet, was hier gemeint ist… Moment, ich schau eben, ob ich den Text im Netz finde… 7.23 Uhr:… sehen Sie, das ist das Netz! >>>> da ist sie: To look at a star by glances – to view it in a side-long way, by turning toward it the exterior portions of the retina (more susceptible of feeble impressions of light than the interior), is to behold the star distinctly – is to have the best appreciation of its lustre – a lustre which grows dim just in proportion as we turn our vision fully upon it. A greater number of rays actually fall upon the eye in the latter case, but in the former, there is the more refined capacity for comprehension. By undue profundity we perplex and enfeeble thought; and it is possible to make even Venus herself vanish from the firmament by a scrutiny too sustained, too concentrated, or too direct. Schau ich also zu genau, d e n k ich zu genau, dann verlier ich das Objekt meines Willens aus dem Auge. So >>>> mit den zwei Zeilen, die ich wochenlang vom Engelsgedicht auf dem Laptop hatte (23.50 Uhr), so vielleicht nun mit dem Libera me. Allerdings hat es bislang nicht geklappt. Hab ja auch verschlafen. NUR: Ich w e i ß, daß dieses Endkapitel im PETTERSSON das Wichtigste werden wird.
Ein anderer Weg, zu einem guten Text zu gelangen, ist die strenge Vorgabe der F o r m; dazu können ein Rhythmus oder Reime gehören oder, im Fall der Romane, eine ausgefeilte Konstruktion, die es einem nicht erlaubt auszuweichen.
Jedenfalls bin ich vor die Tür des Allmächtigen getreten, wenn ich nicht mehr anrufe. Jemand hat Briefe von mir abgefangen und gesammelt. Es geht aber nicht um Privates, nicht um eine Erpressung, sondern um einen politischen Zusammenhang. Ich mache mich mit meinen Leuten auf, alle sind wir bewaffnet, haben die Gewehre, Maschinenpistolen und was sonst noch im Anschlag. Eine F r a u bestellt mich ein, – eine, die, wie der Traumregisseur weiß, der ich zugleich bin, die Fronten gewechselt hat, zu meiner Front hinübergewechselt ist. Aber das weiß ich, als der Traumschauspieler, noch nicht. Sie hat sich mit den Briefen nur für den Fall eine Sicherheit verschafft, daß dieser Schauspieler es nicht glaubt. – Hochspannend, wenn ich beginne, den Traum persönlich zu deuten; für dieses Arbeitsjournal aber geht es offenbar a u c h um den Satz Allan Petterssons, er wäre besser Politiker oder bewaffneter Priester im Kreis von Guerilleros geworden. Anscheinend wertet mein Unbewußtes diese Aussage sehr viel stärker als mein Bewußtsein und schließt Petterssons Bekenntnis-Sinfonik mit dem Glauben zusammen. D a h e r, merk ich jetzt, meine Idee eines Requiems. Es ist nicht Totenklage um ihn, also den Sinfoniker persönlich, sondern interpretiert seine Musik-selbst als ein Requiem, eine Totenklage um die Welt. Was mir nun mit dem Libera me vorschwebt, ist eine A n r u f u n g – eine weltliche Anrufung: die Erde, nicht etwa ein Gott, möge befreien. Was den Gott anbelangt, so läßt Pettersson ja für verschwiemelt schwärmende Gläubigkeit keinen Raum: It is my mother who is my music. It is her voice that speaks in it. I wanted to shout forth what she was never able to say. (…) God is a monster, he lets innocent people suffer… I refuse to accept that man is to blame fort he diesasters on this earth. To me God is the guilty party, he is the one who has sinned, and the cross of Golgatha is the symbol of his bad conscience. Wenn Pettersson von “my mother” spricht, so habe ich die Tendenz, darin nicht seine persönliche, sondern die alte mater magna zu sehen, der ich wiederum im Stück “die Stimme der Sehnsucht” verleihe. Deshalb könnte auch s i e (also die Sprecherin) das Libera me rezitieren; besser aber bliebe nach wie vor: ein Kind. Leider ist mein eigener Junge noch zu klein, um Verse zu sprechen; vierfünf Jahre später gäbe ich i h m diese Rolle. Jedenfalls schwirren, seit ich die Decke vom Körper warf, lauter liturgische Partikel durch meinen Kopf. „Vor deine Tür tret’ ich hiermit“, zum Beispiel, also was als Abschluß hinter Bachs unvollendete Quadrupelfuge gesetzt worden ist, über der er starb. Tatsächlich will ich aber Britten am Ende zitieren, War Requiem: „Let us sleep now“, nur daß ich das umkehren werde in einen irdischen Erwachensruf: „Wacht auf!“ Darin soll mitschwingen: „Erhebt Euch!“ – als politischen Heilsruf an die Geschundenen. Was dann wieder den Bogen schlägt zum südamerikanischen bewaffneten Priester.
Guten Morgen, Sie alle zusammen.

10.29 Uhr:
Ich komme und komme nicht recht weiter. Schon, weil mich ein Anruf erreichte: Mein Junge sei erkrankt. Das macht es aus mehrerlei Gründen notwendig, daß ich bereits morgen wieder nach Berlin fahre und dann nicht nur übers Wochenende, sondern auch noch Montag und Dienstag dortbleibe. Was eigentlich eh angemessen ist, da ich am nächsten* Mittwoch früh auf der Frankfurtmainer Buchmesse sein muß. Eigentlich hatte ich sie dieses Jahr aussparen wollen – das erste Mal seit etwa zwanzig Jahren; ich dachte: Was willst du dort? du hast diesmal kein Buch, und es ist doch eh nur alles Show. Aber jetzt sieht’s so aus, als würde’s das für mich n i c h t, und Klugheit gebietet, auf Verzicht zu verzichten. – Und dann gehen mir völlig andere Gedanken durch den Kopf, die ich formulieren wollte und formuliert h a b e. Dazu legte ich einen Link von >>>> dort nach >>>> da, der seinen Grund in etwas hat, das ich nicht genau fixieren kann, das aber d a ist, weil mich das „da“ überhaupt erst zu dem, was im „dort“ steht, angehalten hat. Also g i b t es eine Verbindung. Und all das kreist überm Libera me, das nicht Wort werden will. Noch nicht.

(*): Ulkiger Sprachgebrauch. Der ‚nächste Mittwoch’, also der von heute an nächste, wäre
eigentlich morgen; den morgigen Mittwoch nennte man aber eher ‚diesen Mittwoch’. Über solchen
Spitzfindigkeiten kann ich ganze Stunden herummurkeln.)


23.35 Uhr:
Den ganzen Tag über am Libera me herumgeprokelt. Herausgekommen ist nichts als, um es mit Adorno auszudrücken, ‚kompositionsfremde Bastelei’, also, um es mit mir selbst auszudrücken: Scheiße. Deshalb stelle ich die Versuche auch nicht in Die Dschungel ein, schon gar nicht auf die Hauptseite. Es ist ‚einfach’ irrsinnig schwer, Leser, einen liturgischen Text zu schreiben und schreiben zu w o l l e n, der gottungläubig ist und dennoch ‚funktionieren’ soll. Also verzichte ich lieber drauf, Ihnen das Ding – und sei’s als Entwurf – zur Kenntnis zu bringen.
Was wir heute abend hörten und sahen in der Concordia, das war, übrigens, nicht anders. Ich hätte so etwas auf gar keinen Fall vor Publikum aufgeführt – obwohl die Arbeit etwas h a t. Aber da muß v o r der Aufführung gefragt werden: w a s? Jetzt griffen bloß autobiografische Daten (Details). So etwas reicht aber nicht. Nicht für Kunst. Man muß noch viel strenger mit sich sein.
Haben Sie alle eine gute Nacht. (Ich hatte noch einiges anderes schreiben wollen, etwa zur Absetzung des von Neuenfels inszenierten >>>> Idomeneo in Berlin mit Rücksicht auf vermeintliche islamische Empfindlichkeiten; ich unterließ es, weil ich den PETTERSSON nicht unterbrechen wollte. Doch auch da geschieht einfach nur dumme Scheiße. Gebuht bei der Premiere haben die C h r i s t en, nicht die Islami, die wahrscheinlich gar nicht dawaren. Es kann doch nun wirklich nicht darum gehen, islamische Empfindlichkeiten zu schützen – gegen die Kunst. Der Koran ist ein Werk der Kunst wie die Bibel und untersteht deshalb denselben Mechanismen der Rezeption – und auch der Abwehr. Ein Islam, der das nicht aushält, macht seinen Gott schwach. Ganz wie die andere den christlichen. Mehr aber schreib ich jetzt n i c h t. Sondern geh schlafen.)

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