Arbeitsjournal. Mittwoch, der 6. September 2006.

5.16 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Pettersson, Neunte Sinfonie.]
Müde. Und es tut sehr weh im rechten Knie. Bin gestern abend ziemlich heftig gestürzt, lange bevor ich überhaupt einen Schluck Bier getrunken hatte – nicht, daß Sie jetzt auf falsche Ideen kommen. Einladung des Bürgermeisters zum Grillen hier im Barockgarten: Stipendiaten nebst Partnern, sowie die Angestellten des Hauses.
Ich leg mir also auf: Salate, Brot, geh zum Grill, merk nicht, daß jemand einen massiven steinernen wadenhohen Ständer in den Zugang gewuchtet hat, bekomm mein knuspriges Bauchfleisch, dreh mich um, will zu einem der Tische – und fange an, den Boden zu verlieren. Bin der Länge nach hingeschlagen, es war wahrscheinlich die Performance des beginnenden Abends, wie ich da in Salat und Scherben lag. Komm natürlich schnell wieder hoch, das schon, man ist ja nicht aus Zucker, schüttle den Schmerz weg, aber über den Abend fängt das Knie zu pochen an, und jetzt, nach den knapp vier Stunden Schlaf, ist es nicht ganz leicht aufzutreten oder das rechte Bein auch nur einzuwinkeln. Es geht, schon, aber alles in ziemlicher Langsamkeit und nicht ohne, daß ich psychisch das Gesicht verziehe. Angeschwollen ist das Knie aber nicht, und wenn ich’s abtaste, ist auch nichts auffällig. Eine Prellung wahrscheinlich, sowas.
Weshalb ich das in einem Arbeitsjournal erzähle, obwohl’s eher in das von mir eingestellte persönliche Tagebuch gehörte? Weil ich den Instinkt habe, daß mir das passiert, um mich Petterssons Arbeitsbedingungen wenigstens ein w e n i g anzunähern. Er hat ab seinem vierzigsten Jahr ja nahezu permanent unter Schmerzen geschrieben. Vielleicht will mein Unbewußtes, das Kunstschaff-Ich, nicht erlauben, daß ich mich aus meiner vergleichsweise luxuriösen Situation heraus (Villa Concordia, Kiesterrasse, Barockgarten, ziemlich gute Gesundheit, ein wundervolles Kind usw.) mit dieser Musik beschäftige, sondern ihr angemessen bin. Genau damit setze ich den Rohling meines Requiems ja an: indem ich den Finger auf diese Differenz lege und indem ich ganz bewußt mit einem nahezu Urlaubsszenario beginne (das ist nur scheinbar so, aber das wird erst später deutlich werden, nicht schon am Anfang).
G u t übrigens: Das Aufstehen fiel nicht sehr leicht, ich hätte das Knie gern noch etwas überträumt, und das viele Bier und schließlich noch der Wein, der getrunken war, tun ein übriges… aber jetzt, am Schreibtisch vor den nachtschwarzen Scheiben, deren schlieriger Tau-Beschlag vom dimmerig spärlichen Laternenlicht der gegenüberliegenden Regnitzseite schillert wie ein beleuchtete Pelzbelag, geht die Konzentration sofort auf den Text. Problem aber: Ich will ihn unter permanentem Einfluß der petterssonschen Sinfonik schreiben, also die Kopfhörer nicht aus den Ohren nehmen, zugleich soll es aber ein episches Gedicht werden, und ich k a n n eigentlich unter Musikbeschallung keine Verse formen. Das ist in den letzten Wochen bei den Gedichten, besonders den Bamberger Elegien sehr deutlich geworden. Jetzt muß auch das gehen, führte aber bereits gestern immer wieder zu Stockungen, als ich den Rohling anfing. Mal sehen.
Guten Morgen, Leser.

(Gestern noch kurzer Mailwechsel mit >>>> Dielmann: Ob wir von dem Liebesgedicht-Bändchen, das im Frühjahr 2007 auf deutsch und französisch erscheinen soll, nicht eine 100er Subskriptionsausgabe machen wollen, die in Handschuhleder gebunden ist? für 100 Euro oder so, numeriert und signiert, 10 oder 20 % des Erlöses für einen wohltätigen Zweck… ich denke da an die Kinderopfer in Nahost, irgend sowas… und Dielmann denkt nun nach. Solche Aktionen brauchen Vorlauf, weil man ohne genügend Subskribenten die Sonder-Auflage nicht finanzieren kann. Keine Ahnung, wieso ich die Idee hatte. Vielleicht ebenfalls wegen Pettersson, vielleicht auch wegen einiger Gespräche mit der Geliebten. Einzwei Tage war ich in den vergangenen Wochen nahe daran zu sagen: Laß uns da hingehen, laß uns da irgendwie helfen; meine literarische Arbeit kann ich auch dort machen. Aber ich hab einen Jungen, der seine normale Schulausbildung braucht. Und sowieso: Was will man in der aktiv-caritativen Hilfe mit einem wie mir, der handwerklich nichts gelernt hat? Mir fällt Petterssons Satz ein, daß er möglicherweise besser Politiker oder bewaffneter Pfarrer im Kreise von Guerilleros in Südamerika geworden wäre. Ausgerechnet er, hab ich da gedacht, mit seiner schweren Polyarthritis, die ihn nahezu bewegungsunfähig machte. Er hätte eine Waffe ja nicht mal halten können, geschweige sich in einen Kampfeinsatz begeben. Aber, ja, eine solche Vorstellung gefällt auch mir.)
So, Pettersson. Gerade höre ich das Leitthema, das sich als GESTE, also als das die Fragmente des Hörstücks verbindende Motiv ziemlich gut eignet, hab es gleich notiert, aber kann das nur nach Zeitangabe tun; ich bräuchte die Noten, Petterssons Partituren, um Taktangaben ins Manuskript schreiben zu können. Was den Vorteil hätte, daß ich nicht auf meine Einspielungen angewiesen wäre, sondern auch jede andere nehmen könnte bei der Produktion.

11.08 Uhr:
[Pettersson, Sechste Sinfonie.]
Hab für den Profi und die Geliebte CDs gebrannt, arbeite dabei immer wieder einzelne Sätze ins Pettersson-Typoskript – und merkte, wie ich mit sehr hoher Kopfstimme diese breit dahinfließende Melodie mitsinge… und beobachte, lausche auf mich selbst, es geht nicht anders, ich m u ß mitsingen, fast kastratisch hoch – und da wird mir klar, daß genau das als Regieanweisung unter einen der Texte muß, den ich parallel schrieb, und daß ich dieses Singen selbst werde übernehmen müssen, um den Klang im Hörstück hinzubekommen – einen Klang, der ganz gewiß nicht „richtig“ ist, aber genau die „Botschaft“ bezeichnet, die ich meine und für dieses Requiem gestalten will.
„Sehnsuchtsmusik“ – d a s fällt mir zu dieser Sinfonie ein; ich bin ja nicht von ungefähr drauf verfallen, >>>> die Sprecherin, die ich fürs Stück im Kopf habe, Stimme der Sehnsucht zu nennen.

17.46 Uhr:
[Pettersson, Sinfonie Nr. 8.]
Es wird, alles in allem, eine riesige Mystifikation, die mir da für das Hörstück eingefallen ist und der ich jetzt folge. Tatsächlich komme ich aber kaum dazu, das Langgedicht zu schreiben, das mir ursprünglich im Sinn war. Es entwickelt sich auch alles nur langsam, immer wieder gestockt vom eigenen Wegschweifen und von äußeren ‚Herantragungen’ an mich von recht ungutem Character, möglicherweise teurer Ärger wegen eines verlorenen Schlüssels usw. Zugleich dieses gute Bewußtsein… nein: Grundgefühl, wieder daheim zu sein, wieder angekommen zu sein, auch wenn eine Zimmertür, deren Schlüssel ebenfalls verlorenging, noch geschlossen bleibt. Aber ich werde suchen und ihn wiederfinden. Denn ich bin jetzt da und will es ohne Ausschweife bleiben. Und langsam, sehr langsam, geht auch der Knieschmerz zurück.
Ich müßte groß ausholen für das Pettersson-Gedicht, sehr groß, wie bei den Elegien, aber ich find den Ansatz noch nicht; es geht mir wie Vincent Herbrand, der am goaischen Meer steht und diese Musik hört und sie nicht fassen kann, wie sie ihn faßt.

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Mittwoch, der 6. September 2006.

  1. Stromboli Lieber Alban Nicolai Herbst,
    ich platze hier etwas unglücklich in diesen Webblog, aber ich weiß keine andere Kontaktmöglichkeit.
    Wir realisieren gerade den vierten Band “Die Äolischen Inseln” in der Edition Jesse. Thema ist “Stromboli”, der Maler Harald Gratz. Wir würden gerne mit Dir zusammenarbeiten. Was denkst Du?
    Claudia Jesse und Jürgen Jesse

    1. für die Jesses. Das ist fein, daß Die Dschungel nun auch für solche Kontaktaufnahmen funktionieren. Welcome on board!

      Prinzipiell bin ich ja allem Sizilischen sehr aufgeschlossen, besonders auch Stromboli. Allerdings weiß ich mit Harald Gratz bislang nichts anzufangen und habe auch noch nicht nach ihm gegoogelt. Bitte einfach Näheres erzählen: fiktionaere@gmx.de – Allerdings bin ich bis in den Oktober sehr durch das jetzige Hörstück über Pettersson gebunden, so daß für weitere Arbeiten bis dahin kein Raum ist, zumal ich an zwei September-Wochenenden auf Veranstaltungen bin.

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