„Bitte haben Sie ’ne kleine Spende.“ Auf einer Tonhöhe permanent wiederholt. So schleicht jemand heran und stützt sich auf den Stock mit der Rechten, in der Linken einen leeren Pappbecher haltend, und zwar so schräg, als sollte er ausgekippt werden. „Bitte haben Sie ’ne kleine Spende.“ In einem fort, wie ein Priester die katholische Messe deklamiert, nur sehr viel leiser. Gerade w e i l so leise gesungen wird, ist der Mann unentwegt zu vernehmen, durch den schleifenden Krach der ein- und ausfahrenden Züge hindurch. Es m u ß irgendwann geben, wer sensibel ist. Auch wenn man weiß, es ist für diesen Menschen eigentlich gar nichts, vielleicht ein Bier. Aber nach Trinker sieht er nicht aus. Und wem alles wäre sowieso und ständig zu geben!
Er bedenkt sich mit „Gottes Segen“. So etwas habe ich lange nicht mehr gehört. Er wiederholt es: „Gottes Segen“. Zuletzt sprach mir das jemand in Catania, auf den wenigen Stufen zu S. Michele Arcangelo, via Etnea. Aber hier ist es nicht eine von morbus bechterew Gebrochene, sondern ein alter Mann, der arm, doch nicht obdachlos wirkt. Und wie uns allen, den Fahrgästen, das peinlich ist, als er mit einstieg und nun immer weiter wiederholt „… bitte haben Sie ’ne kleine Spende“! Wie wir zu Boden sehen, jedenfalls wegschaun! Als brächte dies das Elend, und schützte uns vor ihm, zum Schweigen.
Aus dem Notizbücherl.]
mir gefällt das weil du “wir” schreibst, m anche dieser art texte sind mit erhoben zeigefinger verfasst: “ihr gebt nichts!” ich gebe übrigens auch nichts, es sind zu viele und werden immer mehr. irgendwann beschleicht mich die angst, eines tages dazuzugehören…
@ mukono. Moralisches Fingerheben – es sei denn, es geht um eine dezidierte Kampfposition – sind Der Dschungel an sich fremd; wir versuchen vielmehr, uns neugierig den Phänomenen zu nähern, auch möglichst ohne Tabus. Erst einmal schauen, nachspüren, erzählen. Das betrifft auch und gerade den Umgang mit sozialem und anderem, innerem Unheil oder dem, was dafür allgemein gilt. Und s e l b s t v e r s t ä n d l i c h ist man selbst darin eingebunden und agiert auf die eine und/oder andere Weise mit – nicht selten mit ganz ähnlichen Fehlern wie denen, die man ausgemacht zu haben meint. Manchmal steht man neben sich und s i e h t: ich werde mich gleich falsch verhalten – und will das nicht – und tut es d o c h. Bisweilen habe ich den Eindruck, es handelt sich um Verhängnisse, denen auch der klare Verstand nicht entkommt, selbst wenn er wollte. Darüber wird dann in Der Dschungel Auskunft gegeben. Jedenfalls wird versucht (soll versucht w e r d e n), sie zu geben. Dabei geht unterdessen das, was, demokratischerseits zugleich notwendig, “freier Wille” genannt wird, zunehmend in die Knie. In der geschilderten Szene ist wichtig, daß auch bei denen, die wegschauen, keine Schuld ist, sondern – letztlich – ebenfalls Verlorenheit. Die allerdings eine sozial abgesicherte ist, anders als bei dem Bettler. Was ich hier u.a. versuche, ist, die Verdrängungsleistung der Wegschauenden aufzuheben und aus dem Geschehen-insgesamt Kunst herauszuschlagen – als d e n Verarbeitungsprozeß des Menschen. Er gibt ihm die Möglichkeit, auf dem Wege des ästhetischen Genusses sich bedrohlichen Umständen zu stellen, ohne wegzulaufen. Sondern sie für sich konzentriert zu fixieren und mit der eigenen objektiven wie subjektiven Ambivalenz in ein bewußtes Verhältnis einzutreten. Erst dann, ist so etwas wenigstens annähernd erreicht, wird es um Veränderung gehen, wird ihre Notwendigkeit wenigstens gedacht werden können – unabhängig davon, ob sie denn schließlich erreichbar ist. Hier, nirgendwo anders, ist das Moralische der Kunst zu suchen. So glaube ich.