Montag, der 24. April 2006. Berlin/Bamberg.

5.44 Uhr:
[Kinderwohnung, Küchentisch.
Nach dreieinhalb Stunden Schlaf und einem „Zombie“, den ich mit dem Profi in der Bar trank, fühl ich mich auch so. Aber ich mußte mich berappeln, da meine Anwesenheit in der Villa Concordia nunmehr aus ganz anderen als ‚eigentlichen’ Gründen erforderlich ist: Mein Stipendiengeld wurde nicht überwiesen, und nun steh ich finanziell in gewohnter Nacktheit da. Wahrscheinlich ist das Geld, wie mir per Mail angedroht wurde, wegen der Hausordnung zurückbehalten worden, die ich nur nach ein wenig Modifikation unterschrieben habe. Also mußte ich in der Arbeitswohnung den Brief des Anwalts heraussuchen, der auf meine Bitte hin diese Hausordnung angeschaut und über weite Strecken für unwirksam befunden hat. Das Ding nehm ich nachher mit und lasse es dem Concordia-Direktor vorlegen; damit wird sich diese unleidige Angelegenheit dann wohl hoffentlich erledigt haben. Eigentlich hatte ich die Sache nicht so hochhängen, sondern italienisch regeln wollen; nun bleibt mir nichts anderes übrig, als sie so deutsch anzugehen, daß abermals der Amtsschimmel wiehert. Na, wurscht.

Es war ein schöner Spätnachmittag mit dem Jungen und seiner Mama; der status quo b l e i b t zwar status quo, doch eben der wärmende, der hoffnungsvolle des Ostermontags; Z e i t braucht es nur und von meiner Seite – Treue. Ich bin gewillt. (Das liest sich wie ein Ja vorm Standesbeamten und ist es wohl irgendwie auch. Hat zugleich was Komisches. „Du wirst i m m e r mehrere Frauen, du wirst immer Affären haben“, warnte gestern leise der Profi, der die Entwicklungen mit freundschaftlicher Skepsis verfolgt.) [1]Auch das wieder hat insgesamt etwas, wenn man es liest, von einem Roman, von dem aber nicht einmal der Autor weiß: gibt es ein Happyend? Allerdings glaubt er daran.

Kam gestern früh ganz wider Erwarten sofort in ARGO hinein, hatte aber ja nicht viel Zeit, eine halbe Seite etwa kam zuwege; während der ICE-Fahrt nach Berlin war des Jungen wegen an Weiterarbeiten nicht zu denken. Egal. Wir hatten schöne Ferien, lassen Sie uns, Leser, das s o sehen. Nachher, im ICE zurück nach Bamberg (ich werde hier Viertel vor acht aufbrechen), werde ich weiterschreiben – sofern mich die Müdigkeit läßt. Vorher ist noch Zeug zu packen, das ich aus der Arbeitswohnung holte, mythologische Lexika, Wörterbücher, zweites BrennerLaufwerk, DAT-Recorder usw., außerdem Klamotten, ein zweiter Anzug, Schuhe; relativ leicht beschultert kam ich her, schwer fahr ich wieder zurück.
Ein enormes Freiheitsgefühl, übrigens: durch ‚mein’ Berlin zu stapfen, nachts, zugleich in Bamberg zu sein, dann nachher, mittags, tatsächlich wieder in Bamberg zu sein und zu wissen, die Bahncard 100 läßt mir jede Freiheit, schnell mal eben zurückzufahren – oder auch nach irgendwo anders hinzufahren, sich nicht um Fahrgeld sorgen zu müssen, einfach einzusteigen und ab geht’s. Die Entfernungen werden so klein. Es ist jetzt ein wenig, als flanierte ich wirklich durchs anderweltliche Buenos Aires, die Orte sind ineinandergerückt, miteinander seelisch verschachtelt. Die Grenzen heben sich auf, ich sitze auf meiner Bamberger Terrasse zugleich, wie ich den Nollendorfplatz überquere oder im TORPEDOKÄFER ein Radeberger trinke.

Und vor meinen Augen, fühlbar, steht die de-illusionierte Weststadt Europas, das kybernetische Gitternetz, in das sich Anderswelt aufgelöst hat, und die Argonauten sind nah der Mauer. Dieses Bild scheint sehr sehr kräftig zu sein; als ich es schrieb, wußte ich das so noch nicht. Jetzt läßt es mich nicht mehr los. Ausgekühlte Welt, der >>>> das entgegenzuhalten ist.

8.50 Uhr:
[Im ICE nach Leipzig.]
Fotos vorbereitet, die ich in Bamberg am Bahnhof, wo ich gestern einen entsprechenden Automaten entdeckt habe, ausdrucken lassen will. Für meinen Arbeitsplatz in der Villa Concordia. Danach schräg gegenüber ins Sportstudio; ich will mein KörperTraining wiederaufnehmen, und dort bietet man Fitneß und Sauna für 9,95 €/Monat an.
Jetzt ARGO. Neben mir sitzt eine überaus attraktive junge Dame und arbeitet über „Humanität und Politik im Konzept der Weiblichkeit“ (zu Schillers Maria Stuart und Johanna von Orléans). Angenehm. Und eine Fotografie Lakshmis und unseres Jungen, der unfaßbar strahlt, als Desktophintergrund auf meinem Laptop.

10.37 Uhr:
[ Wolf-Ferrari, Sly. Der ICE Berlin-Bamberg kurz vor Naumburg/Saale.]
Und plötzlich eine ganze Erzählwendung in ARGO gefunden; sie erklärt, mir selbst nahezu unfaßbar, den gesamten >>>> Skamander-Komplex und bindet ihn an die Geschichte(n) beider Odysseus’. Es ist ganz erstaunlich, welch kreative Ressourcen es in mir freisetzt, wenn ich nicht nur Musik höre, sondern von ihr >>>> ergriffen werde. Dann fallen Sperren von mir ab, die ich nur ungefähr ahnte, aber nicht genau bezeichnen und schon gar nicht orten konnte – und die Erzählung erzählt sich nahezu selbst. Sie gleitet in THETIS zurück, und in mein eignes Vergessen gesunkene Figuren erstehen – sozusagen heben sie sich mit Skamander aus dem Sumpf heraus, schütteln den Morast von sich ab und schreiten durch den Text.

14.22 Uhr:
Angekommen. Es ist enorm warm in Bamberg. DSL wird jetzt auch geliefert, aber ich komme über den Laptop immer noch nicht ins Netz. Seltsamerweise zeigt er aber an, daß eine Netzwerkverbindung besteht, auch das WLan wird als bestehend bezeichnet. Dennoch kann der Computer keine Verbindung herstellen. Ich fürchte, da steht heute noch einige Kniffelei für mich an.
Immerhin fast zwei Seiten ARGO im Zug geschafft.
Und die CoDirektorin sagt, es s e i das Geld angewiesen worden; ich möchte ich einen Tag Zeit lassen, die Sache zu überrüfen. Also hab ich meinen Anwaltsschrieb noch einmal zurückgehalten. Vielleicht löst sich d o c h alles ohne böses Blut.
Jetzt erst mal in die Bibliothek, um die Mails zu checken. Dann hier weiter rumprobieren…

15.34 Uhr:
B i n i m N e e e e e e e t z !!!!!!!!! Keine Ahnung, was ich da richtig eingegeben habe…
So, Sachen auspacken. Hier sieht’s aus wie Krübenraut.

Abends:
Leichter Einsamkeitsanfall. Vermisse den Jungen die Frau. Hab vier Fotos, die ich mittags am Bahnhof von einem Automaten ausdrucken ließ, auf einer der tragenden senkrechtschrägen Holzbarren befestigt, die das Glas der Studiofront tragen; von dort schauen die beiden Schönen nun direkt in meinen Blick. Den Impuls, in Berlin anzurufen, schluckte ich allerdings nieder, holte mir besser eine DVD aus der Videothek. Thriller mit >>>> Monica Belluci. Es ist witzig: in jedem Film zeigt sie wenigstens einmal ihre Brüste – entsprechende Szenen scheinen, ob’s für die Handlung nötig ist oder nicht, stets eigens hinzugeschrieben zu sein. Plötzlich in mir der Eindruck: das geschah und geschieht viel weniger fürs Publikum, sondern rein für sie selbst: um zu dokumentieren:: um ‚festzuhalten’ – für irgend ein Später: wie schön die Brüste einmal waren. Sie sind es tatsächlich, die Haut ein schwerer, warmer, pulsierender Samt, die Brustwarzen sehr wache Augen, belebt, nicht funktionslos, sondern den fremden Blick fordernd.

References

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1 Auch das wieder hat insgesamt etwas, wenn man es liest, von einem Roman, von dem aber nicht einmal der Autor weiß: gibt es ein Happyend? Allerdings glaubt er daran.

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