Skamander (ff). Gestaltenwandlung. Industielle Landschaft. Argo. Anderswelt. (227).

„Skamander kann a l l e s sein“, sagte Brem, „kann die Gestalt jedes Geschöpfes annehmen.“
Weil er, dachte ich, eine Essenz jeglichen Geschöpfes war: Flüssigkeit, das fließend Unstete, das wir eben a u c h sind und gegen das Präsident Ungefugger und mit ihm seit jeher die Menschheitsgeschichte angetreten war, es zu wandeln ins Ewig-Bleibende Verläßliche. Skamander war, dachte Cordes am Küchenfenster, der grausame Aspekt, der brutale Aspekt dieses Flüssigen: er stand für Trennung und Verlust und Qual, für amputierte Beine, für zerschossene Mägen, für die im Kindbett verstorbene Frau, das verhungernde Kind, von dem man, so dünn ist es mittlerweile, nur noch riesige Augen sieht. Skamander war die Personifizierung der Fühllosigkeit von Natur; d a s machte ihn monströs, nicht seine Gestalt. Freilich war die Monstrosität Ungefuggers-im-Lichtdom nicht geringer, sie war nur ein anderer jener Pole, zwischen die das sich ständig wandelnde Feld der Evolution vorwärtsspülend gespannt ist, und sie selbst bewegen sich m i t: paar Surfer darauf, paar Surfer darunter, die meisten übrigen – welches wirklich die meisten m e i n t, das „übrige“ in der Formulierung ist zynisch – zappelnd davongerissen im Strudel, und von denen der Großteil ersoff.
Unheimlich war’s in der Gegend, unheimlich still, unheimlich lag der Gestank dahingerotteter Gerätschaft in der Luft, unheimlich lag das 20-Kilometer-Loch des verwesenden Sees, standen die Monstermörser für den industriellen Abfall, hing wie Lavazapfen das zäheCyanidharz aus den klaffenden Röhren , standen verlassen Caterpillars und die sonstigen Baumaschinen: spitze ausgehungerte Kranarme; dazu ein aus vertrockneten und gepreßten Leichen gekieselter Schotter. Und nirgendwo ein Mensch. Man spürte, wie diese industriell ruinierte Restlandschaft nach dem Wasser s c h r i e nach F l u t e n: Mach mich hinweg! schrie sie, Überspül mich! mach mich vergessen-ergessen-gessen-essen: das mehrfache Echo eines verstummten, aber um so tiefer spürbaren Tinnitus’ aus Zerfetzung Not Ekel Selbstekel – – alles alles Verlust.

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11 thoughts on “Skamander (ff). Gestaltenwandlung. Industielle Landschaft. Argo. Anderswelt. (227).

  1. „Skamander kann a l l e s sein“ … Was kann eine Figur, die die Gestalt jedes Geschöpfes annehmen kann anderes sein als ein Kleiderständer? Eine Marionette, die nie „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ sagen könnte. Wenn man schon den Cyberspace als voll gültigen Handlungsraum nimmt, gehören auch die im Hintergrund wirkenden Spieler und abhängig Beschäftigten dazu und dann wird es oft unpoetisch…

    1. In diesem Fall nicht. Geben Sie „Skamander“ auf der hiesigen Search-Rubrik ein, und das Programm wirft Ihnen zu Skamander sämtliche Stellen aus, die ich dazu in der ANDERSWELT-Reihe in Den Dschungel gepostet habe. Ich mag mich nicht wiederholen, dennoch: Die Figur stammt von Homer, auch da können Sie sich kundig machen. Im übrigen spiele ich in ihr zugleich in einer mit Homer dämonisierten Version von Odo, dem Gestaltenwandler aus Deep Space Nine. Für ihn, also für Skamander, gilt etwas Ähnliches wie für die in ANDERSWELT übernommenen und transformieren Bionicles.
      Es ist insgesamt – gerade auch für einen selbst und die eigene (Lese- sowie Lebens-)Lust – immer sehr geraten, nicht sofort in ironische Abwehrhaltung zu gehen; Sie tun sich damit nur selbst was an, vorenthalten sich etwas. Mich pressiert das nicht so sehr, da ich genau w e i ß, was ich mit der ANDERSWELT-Reihe schreibe, und in gar keiner Weise von meinem Weg mehr abzubringen bin. Sie haben, Stulli, so eine Neigung zur Profanierung, die Ihnen vieles versagt: etwa Katharsis. Vielleicht sogar Leidenschaft-als-solche. Also… und dies ist wirklich freundlich gemeint: Bevor Sie immer gleich so lax wie undurchdacht zuhauen:: erst einmal ein wenig sich informieren.

      P.S.: Selbst im gewollten Witz sind Sie ungenau: Ein Kleiderständer ist sicher kein Geschöpf. Witze, auch denunzierende, funktionieren nur über den genauen Punkt in der Formulierung: nämlich zugleich semantisch wie stilistisch. Deshalb mag ich auf Ihren Anwurf auch nicht mit einem Bonmot parieren; es wäre rein verschossen. Wohl aber kann ich Ihren Kopf etwas wenden, so daß die Perspektive klar wird.

    2. Skamander Das hat mit mir als Person nur in soweit etwas zu tun, dass ich u.a. Spielsucht-Probleme habe und mich schreibend damit auseinandersetze, z.B. in der „Maultrommel“ (http://home.ngi.de/hans9/maul.htm) Und was die Selbstprofanisierung betrifft, ist sie tatsächich meine Abwehrhaltung gegen den Mummenschanz von Spieleindustrie und Trivialbuchverlagen.
      Ja klar, die neuen Götter sind die ganz alten und Skamander ist der Fluß bei Troja und der wirbeldrehende Stromgott. Und wenn man lange genug am Fluß sitzt, schwimmen die Leichen seiner Freunde vorbei. Insgesamt halte ich ich es jetzt aber für produktiver, weniger zu konsumieren und mehr in die vermeintliche Stille der Gegenwart hinein zu horchen. (Wie Sie das in San Michele so schön getan haben.)

    3. Die beiden Projekte. Wie dir übrigen auch. Gehören aneinander und sollte zusammengedacht, vor allem -gefühlt werden: die S p a n n e ist es, die der Kunst ihre Bedeutung gibt. SAN MICHELE allein wäre mir ganz sicher zu nah am Kitsch gewesen, nicht aber mehr in einem Werkzusammenhang, der vom Sozialportrait bis zur Fantastik reicht und eines aufs andere bezieht (die Dinger stehen ja nicht berührungslos nebeneinander, sondern teils gehen die Texte sogar auseinander hervor).
      Mir wird jetzt aber Ihre Profanierungsimpuls klar. Nur: Weshalb den anderen ein Kulturgut überlassen, das über Jahrhunderte so wirkmächtig war und nicht weniges unserer Künste mitdefinieren half? Weshalb es kampflos der Industrie überlassen? Wenn man es doch so pfiffig und zugleich seelenvoll in Bewegung setze kann? Hieße das denn nicht, die uns angetane Verarmung gleich von uns aus noch zu verdoppeln? Anstelle uns in nden Besitz unseres Eigentums zurückzubegeben? – Hierüber, u.a., handelt der WOLPERTINGER.

    4. Kulturgut Da darf man sich also wieder einmal durch die griechische Mythologie kämpfen, seit Generationen leben die Oberlehrer nicht schlecht davon. Und der Geschichtenerzähler ist seinen Lesern immer eine halbe Feldbreite voraus, weil er ja die Definitionsmacht hat, wo es mit der Geschichte hin geht. Doch das ist heute ein Rückfall, denn Ilias und Odyssee waren die Gründungsmythen einer Bauernkultur, wo es zunächst einmal darum ging, sich mit Feuer und und Schwert bei den Nachbarn Respekt zu verschaffen. Wohin soetwas heute führen kann, zeigen Bushies und Neoliberale…

    5. Sie irren sich. Die Definitionsmacht hat nicht der Geschichtenerzähler, sondern die Eigenbewegung der Geschichte. Und was die mythologischen Motive anbelangt, so sind sie u n t e r a n d e r e n da, unter v i e l e n anderen, seien es physikalische, soziologische, zeitgeschichtliche. Ihre letzten beiden Sätze zeigen im übrigen sehr deutlich, wie wichtig es ist, sich mit den entsprechenden Wirkmechanismen zu beschäftigen, wie n a h e uns auch. Nur weil ich leugne, ist etwas nicht weg. Über den Einzug der Mythen in die Kybernetik und allein schon den Programmierer- und HackerJargon habe ich verschiedentlich auch theoretisch gearbeitet, das läßt sich ja nachlesen.
      Im übrigen ist es einfach dumm, den Oberlehrern die Herkünfte Europas zu überlassen – oder sagen wir: des Abendlandes.Im Gegenteil, man muß ihnen die Verfügung darüber streitig machen und sich selber aneignen, was derart mißbraucht worden ist.
      Wenn Ihnen alles das nicht gefällt, nun, so müssen Sie es ja nicht lesen. Es gibt genügend flache Autoren im Angebot, da geht das Wasser nicht tief, und man watet immer im Bekannten Vertrauten Menschlichen Rührigen Pragmatischen Vernünftigen – und macht sich deshalb kaum einmal die Waden naß.

    6. Eigenbewegung der Geschichte Und die Eigenbewegung der Geschichte (in beiden Bedeutungen des Wortes) ist beeinflussbar. Wobei ich wenigstens hinter Friedensbewegung und Lessing nicht zurück möchte…

    7. Sehen Sie. Das eben glaube ich nicht mehr; jedenfalls nicht in d e m Sinn, daß die Bewegung freien Willens gesteuert werden kann; sondern w i e sie sich steuert, hängt von Faktoren ab, die sich ganz außerhalb unserer – auch moralischen – Willkür befnden. Darüber habe ich mehrfach andernorts geschrieben, aber etwa auch, und zwar dort liebend, >>>> h i e r.

      [Bei ARGO und Mahler V.]
    8. Gesetz und Perspektive Wie schon Hans Sachs sang: Du schaffst das Gesetz und folgst ihm dann. Aber als Prosaerzähler kann ich die Perspektive der Sicht auf das Geschilderte verändern. Wie M. P., der zuerst ins Unendliche zoomt, dann sind wir ein „Pfurtz in der Weltge(s)chichte“. Dann im Mikrobereich ist es Schicksal, Molekülbewegung. Relevant wären zwanglos mitgenutzte geschichtliche und politische Kategorien im üblichen Auflösungsbereich…

    9. Und sie bewegt sich doch! Ganz so frei ist der Wille des Erzählers und seiner Gestalten nicht. Aber der Autor hat auf seine Geschichte hin gearbeitet und seine Gestalten sind auch nicht erst seit gestern auf der Welt. Odysseus ist z.B. der Listenreiche, ein kooperativer, kommunikativer und sogar friedensfähiger Mann, der wieder als König wirken will. (Was damals eher soetwas wie ein Großbauer mit Verwaltungsfunktionen war.)
      Ja klar, es gibt nichts neues unter der Germanistensonne und auch im Cyberspace sind alle Geschichten schon wieder erzählt.
      Da wird es fast zum Glaubensakt, zu behaupten, dass es doch etwas neues gibt. Der hier schon genannte Gibson hämmerte ja auch seine Angst vor dem Rollback seines Wohlstandstraums in die Schreibmaschine. Dazu müßte man sich freilich auf Keynes und New Deal, Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen beziehen und die Prügel dafür aushalten, dass man soetwas profanes überhaupt anschleppt…

    10. Das „Neue“. Ist immer eine andere Konfiguration endlicher Formen. Aber die Möglichkeiten ihrer Konstellation sind unendliche, jedenfalls längst nicht ausgeschöpfte, sowohl formal wie erzählerisch. Ein „neuer Odysseus“ wiederholt nicht, sondern wiederholt anders. Seine Form geht in die Gegenwart der Gegenwart g e m ä ß ein und erfüllt sich darin wieder. D a r u m geht es, d a s zu erfassen und momentlang festzuhalten. Und zu erzählen.

      (Wir lieben nicht nur einmal, aber jedesmal „neu“. Und zwar: emphatisch neu. Es besteht deshalb kein Grund zur Abgeklärtheit; sondern wer dieses Neue deshalb mißachtet und profanierend-ironisch kommentiert, verliert den Kontakt zur Welt.)

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