Sonnabend, der 28. Januar 2006.

8.10 Uhr:
Bis eben durchgeschlafen. Den Impuls, hinauszugehen und nach drüben zum Lädchen über die Schönhauser zu wechseln, um neue Zigaretten zu kaufen, widerstehe ich. Beiße die Zähne zusammen und höre nämlich wieder zu rauchen auf. Der Geschmack, der Gestank und die Sucht gehen meinem Geist auf den Keks, bisweilen auch meinem Körper; aber nicht mir. Da liegt ein Problem. (Nach zweidrei Tagen, immer, ist es gelöst.)
Daß ich heute zum Arbeiten komme, sehe ich nicht. Ich habe an solchen Tagen immer ein schlechtes Gewissen, was anderen fremd ist, die den Begriff ‚Wochenende’ internalisiert haben. Katanga hat Geburtstag, gegen elf kommen Freunde von ihm, aber auch, weil ich das nicht wußte, die Leiterin der Phantastischen Bibliothek, um mich zu sehen und etwas mit mir zu besprechen. Und nachmittags geh ich schwimmen mit dem Jungen. So hab ich jetzt eine Stunde. TWIN PEAKS übrigens, Teil 24, ging sehr böse aus. Aber nicht davon hab ich leichten Kopfschmerz heute früh.

9.40 Uhr:
Seit den Geschehnissen in Twin Peaks, seit sie so deutlich schwarzmagischer Natur sind, habe ich auf meinem rechten Oberschenkel eine Verwundung. Ich spürte sie erst immer nur, durch das Hosenbein, und sah nicht hin. Kleine Schmerzen nehme ich in aller Regel nicht für voll. Dann aber sah ich beim Entkleiden dieses absolut reine rechtwinklige Dreieck: als hätte es ein Messer hineingeschnitten. Es ist so groß wie ein Drittes Auge, das jemand auf der Stirn trägt. Zugleich erinnert es an den Zirkel der Freimaurer sowie an eine, daher stammt das Symbol ja, altägyptische Hieroglyphe. Das Ding, das immer noch schmerzt und mir vollkommen fremd ist, heilt nicht. Oder nur sehr langsam. Jetzt, da Twin Peaks vorüber ist, darf ich mich der Annahme hingeben, vielleicht, nunmehr heile es schneller.
Um Ihnen zu beweisen, daß dies keine Fiktion ist, könnte ich eine Fotografie einstellen. Aber das nähmen mir abermals welche übel.

20.03 Uhr:
Aus dem Schwimmbad zurück. Stille. Nur nebenan, im Kinderzimmer, läuft als Hörspiel star wars, Eine neue Hoffnung. War mit b e i d e n Jungs unterwegs, auch mit Katangas. Was dann sehr gut war. Denn das ist mir auch noch nicht passiert: Ich stell mich unter die Dusche und beginne zu frieren. Die Jungs springen ins Wasser, ich mag nicht. Ich nehme ein Buch vor, lese fünfzig Seiten am Stück, ergriffen, gefaßt – und diesmal nicht von etwas Neuem, einem anderen Stil, sondern von Nähe. Ulrich Faure schickte es mir: „Lies das, Du hast einen älteren Bruder. Frag nicht. Lies einfach. Du wirst erstaunen.“
Und so ist es dann auch; die Nähe geht bis in die Syntax, Aufzählungen haben keine Kommata mehr, Hauptsätze werden rhythmisch an Nebensätze gehängt, was, wie bei mir, die Konturen anders wahrnimmt als der sog. Realismus. Ganze semantische Zusammenhänge lösen sich auf, flirren, werden zu neuen Perspektiven. Und es geht bis in die Wortwahl. Wilhelm Muster wurde 1916 geboren, er ist jetzt ein alter Mann, emeritierter Grazer Professor, ich werde ihm schreiben, wenn das Buch ausgelesen ist. Es erschien bei Klett-Cotta 1986 – sieben Jahre vorm WOLPERTINGER, zwölf vor THETIS, mit dem diese Stilgemeinschaft besteht. Der Inhalt in den Zwischenräumen, der Musik. Nie lese ich Klappentexte. Ich will mich nicht beeinflussen lassen. Jetzt seh ich nach:…dann ist der Umschlagpunkt zwischen Wirklichkeit und Irrealität, produktiver Phantasie und Traum längst erreicht, die Grenzen sind unwichtig und werden immer wieder nach beiden Seiten überschritten.

[Wilhelm Muster. (2).
1 <<<<]

Ich werde immer wieder nun aus diesem Buch zitieren.
Aber soll ich mit der Kontaktaufnahme wirklich warten, bis ich ausgelesen habe? Schon Gould, mit dem ich gerne telefoniert hätte (auf andere Kontakte ließ er sich in seinen letzten Jahren nicht ein), ist mir zu früh gestorben, eine uneingelöste Zeitgenossenschaft, auch Carlos Kleiber starb – für mich – ‚uneingelöst’. Den hätte ich nur gerne angesehen, nichts gesagt, nur angesehen, um diese Kraft zu begreifen.
Mein Junge drängt: „Bitte komm ins Wasser, Papa!“ Ich springe vom Block. Sofort durchfährt mich Eis, die Muskeln kontraktieren, die ganze Bahn schwimme ich mit Gänsehaut, steige die 50 Meter weiter hinaus, bibbere. „Nicht bös sein, mein Sohn, es geht nicht. Offenbar ist aus mir die Krankheit noch nicht heraus.“ „Dann komm in das w a r m e Becken!“ Es ist sehr flach und für gewöhnlich für mich überheizt. Dasselbe. Ich friere und friere. Schlag mich in den Bademantel ein, nehme wieder das Buch. Und lese etwas entsetzlich Privates:Unsere Liebe hätte ein dramatischeres Ende verdient.
Und wie?
Streit, Prügel, blaue Augen, vielleicht sogar ein Mordversuch, jedenfalls die Polizei.
Und warum sind wie dazu nicht fähig? Warum geht alles so lautlos?
Weiß ich’s?
Herr Muster, auch das dramatische Ende ist voller Schrecken.
(Mein Frieren hat auch mit der Auseinandersetzung >>>> hierum zu tun. Mir geht das sehr nach. Ich verstehe die Wut nicht, die hinter den Anwürfen steht, sie ist ja fast Haß. Dauernd denke ich darüber nach, das hat auch etwas Entkräftendes. Bettina Trwsnick war mittags da, wegen mehrerer Veranstaltungen, bei denen sie mich gern hätte. Unter anderem einer über Tabus. „Du faßt sie an“, sagt sie. „Ja“, sage ich, „ich fasse sie an.“ „Willst du im Rahmen eines Schriftstelleraustausches für einen Monat nach Vilnius?“ fragt sie. „Willst du für einen Monat nach Aquitanien?“ “Und weshalb m a c h s t du das dann”, fragte oft der Profi, “wenn dir die Reaktionen jedesmal so zusetzen? Laß es doch sein!” “Es geht nicht”, antwortete ich, “es ist nötig.” Ich hab’s nicht geschafft mit dem Rauchen. Und es zehrt.)

22.11 Uhr:
[Haydn, Streichquartett E-Dur, im DänenNetzRadio. Leise, nur im Hintergrund, wie ein fernes Fenster.]
Ein ganze Heft „Pettersson & Findus“ zum Einschlafen gelesen, dabei im Kopf die Aufgaben gelöst, dann noch „Der kleine Dinosaurier“ hinterhergelesen. „Papa, aber noch kuscheln.“ „Aber ja, ich mach nur das Licht aus und komm gleich wieder her.“ Er liegt auf der Seite, ich auf der Seite mit dem Bauch an seinem Rücken. Er nimmt meine Hand. „Du hast s o kleine Finger“, sag ich. Er lacht. Wir legen die Handflächen aufeinander. „Du kriegst auch mal solche Pranken“, sag ich. Er lacht wieder. „Ich hab dich so lieb.“ Läßt die Hand in meiner, atmet einmal tief – und schläft.
Etwas durchs Netz schauen noch, einen Whisky dabei, nein, Whiskey ist es heut, dann noch etwas Wilhelm Muster lesen. Die Netzfreunde sind alle nicht da, offenbar, es ist ja auch Sonnabend. Das Gespräch Ulrichs, des Protagonisten in „Pulverland“, mit dem Teufel beginnt. „Liebe und Glück“, sagt dieser, wobei er die Geschlechter-, nicht die Liebe zu einem Kind meint, „beides gleichzeitig, das ist unmöglich. Wußtest du das nicht?“

23.16 Uhr:
Ich lese gerade, es habe sich erledigt, Herrn Muster anzurufen. Laut >>>> Wikipedia ist er am 26. Januar 1994 gestorben.