4.45 Uhr:
[Christobal de Morales, Requiem.]
Der Vormittag wird durch vieles Gleichzeitiges etwas chaotisch werden; aber das ist alle zwei Wochen normal, wenn ich meinen Jungen bis Montag früh bei mir habe und nicht nur bis Sonntag am Nachmittag. Heute kommt halt noch – als ‚Einfall’ in die Morgenarbeit – das völlig chaotische Kinderzimmer hinzu, das ich gleich um sechs werde aufräumen müssen, da das gestern wegen der hannöverschen Veranstaltung nicht mehr zu schaffen war. Ist aber derzeit kein Problem, denn die Arbeit an ARGO ist so gefestigt, da holt mich momentan nichts mehr raus.
G. reist für zwei Wochen in Urlaub, Eisenhauer i s t bereits fort; daß die Freunde weg sind ausgerechnet zu diesem Monatswechsel, an dem meine Konten völig leere Taschen haben, macht mich leicht unruhig, da ich mich ggbf. gern wenigstens gesprächsweise, aber auch juristisch anlehnen würde. Aber gut, ich komm schon klar, auch wenn ich zugeben muß, daß es mir diesmal s c h o n mulmig zumute ist. Doch, wie gesagt, alles kennt seinen Ausgleich: und der meine ist dieser Roman, der wächst und wächst. (Auch, wiederum, wenn von einem Verlag wegen einer Anfrage die Bemerkung kam, man hätte ganz gerne wieder sowas wie meinen Arndt, nicht aber die „fulminant ausgreifende“ ANDERSWELT. Ich stehe in dieser alltagsnormalen Literatur-Ästhetik so ziemlich allein herum und wuchte meine Findlinge den Berg rauf; die meisten andern tun das weder, noch wollen sie; und die Zuschauer haben L u p e n mitgebracht, es geht ihnen ganz offenbar ums Kleine. Meine Findling stören da nur. Man fragt sich deshalb: – für wen wuchte ich eigentlich? Nun ja, hier die Antwort: FÜR DEN IMAGINÄREN LESER, DEN ICH MIR IN DIESEN DSCHUNGELN I N I H N E N ERFINDE.)
15.41 Uhr:
[Barber, Vanessa.]
Nur eine Seite ARGO heute bislang, aber das war bei dieser Tagesstruktur nicht anders zu erwarten. Nach der Morgenarbeit und nach Analyse…
— „Ihre ein wenig übermenschlich wirkenden Anstengungen, existentielle Bedrohungen mit Lustgewinn, ja mit Liebe zu koppeln, müssen Ihren Grund in darin symbolisch wiederholten Geschehen aus Ihrer Familienerfahrung haben“; ich wurde tatsächlich aggressiv, als der Analytiker versuchte, eine Parallele zwischen meiner eigenen gescheiterten Beziehung und derjenigen meines Nazi-Großvaters und meiner Großmutter zu ziehen, die zur Widerstandskämpferin gegen Hitler wurde und im Zuchthaus landete, weil wahrscheinlich ihr geschiedener Mann sie denunziert hat;; ich wurde irrational aggressiv;;; das hatte etwas Hilfoses, h a t etwas Hilfloses, denn ich lernte keinen der beiden je kennen, hörte immer nur diese Geschichten – etwa die, wie sich meine nach der deutchen Kapitulation aus dem Zuchthaus befreite Großmutter öffentlich in Zeitungsannoncen von ihrem damals sechzehnjährigen Sohn, meinem Vater, losgesagt hat, weil der – logisch, was sonst – als strammer Hitlerjunge bei ihr ankam. Meine Mutter hat ein solches Verhalten uns Brüdern gegenüber stets als vorbildhaft bewundert: daß man für die richtige Moral auch seine eigenen Kinder opfert. Imgrunde ist meine Familiengeschichte insgesamt eine Erzählung. —
… sehr gut gelaufen, die Leistung um einen knappen Kilometer auf jetzt 6, km erhöht. Danach Krafttraining (der linke Arm motzt nun) und ein sehr tiefer Schlaf. Mit dem ersten latte macchiato des Tages nunmehr wieder an den Roman. Höre dabei Samuel Barber, einen mir eher fernliegenden US-Komponisten, der aber, hör ich mich so ein, starke emotionale Vorzüge hat.
Ach ja, eine Auseinandersetzung bei http://www.finya.de mit einer sich dort moonshower nennenden Motte, die dem Tag die Nacht vorzieht und an so etwas den Künstlercharacter bindet. Als ich sie wegen der blassen Haut und der Organschäden verspotte, die das eher mit sich bringt als ein Werk, antwortet sie folgendermaßen:
nun ja… kann ja sein, daß du mit dem alter… zum saturierten bürger geworden bist.
ist mir auch wurscht.
ich jedenfalls kenne auch künstler (inklusive schreiberlinge) in deinem gesetzten alter, die es nicht sind und auch nicht werden.Schon bei „gesetztes Alter“ muß ich lachen, und bei „Schreiberlinge“ ist klar, wie wenig diese Schein-Frau von Kunst versteht. Jedenfalls ist da zuviel Dummheit, als daß ich, was ich e r s t wollte, einen neuen Netzfrauen-Paragrafen daraus fasse. In einer Mail davor nannte sie mich, als wär sie noch 13, einen „bürgerlichen Spießer“. Nun ja. Daß man aber auch dann, wenn man selbst beim Sie bleibt, im Netz immer sofort und sozusagen unerbittlich-weiter geduzt wird, ist etwas, das nicht nur in die Seiten mangelnden Respekts gehört, sondern vor allem, glaub ich, auf das Konto einer solchen Menschen sehr angelegenen Neigung zur Übergriffigkeit und zum emotionalen Machtmißbrauch gebucht werden muß.
19.27 Uhr:
[Alwyn, Miss Julie.]
Ich muß mich allerdings s c h o n fragen, was ist mit einem Ehepaar v. Ribbentrop los, das, mit dieser furchtbaren Deutschen Geschichte im Rücken, ihr 1957 zweitgeborenes Kind ausgerechnet H a g e n nennt? Was ist da in meinen Eltern – beiden! – unbewußt (oder bewußt sogar?) abgegangen, einen solch symbolischen, mit derart viel Blut behafteten Namen weiterzugeben?! Das beschäftigt mich, während ich an ARGO tippe und eine Musik höre, von der ich genauso wenig weiß, was ich von ihr halten soll wie von dieser entsetzlichen Namens-Vergabe. Da ist etwas im Hintergrund, das droht.
22.54 Uhr:
[Halffter, Jarchas de dolor de ausencia.]
Bis eben an ARGO weitergeschrieben ; nun doch auf fünf Typoskriptseiten gekommen; bin davon müde, Abendarbeit ist ja eigentlich nicht meine Sache. Ich merke, wie immer wieder die Schrift/Bilder vor meinen Augen verschwimmen. So werde ich, wie gestern, abermals kurz nach elf schlafen gehen. Weder das Treffen mit den Freunden S. und M. kam zustande, noch war G. zu einem gemeinsamen Getränk zu bewegen; er wird die Nacht durcharbeiten müssen, sagte er am Telefon; so vieles l i e g e, und morgen früh gehe der Flieger. So werd ich ihn denn vor seiner Reise doch nicht mehr sehen.
Ich bräuchte noch einen schönen Satz, um den Tag abzurunden. Zum Beispiel so etwas:
Sie haben sich ja gefunden, um einander ein neues Geschlecht zu sein.