Adler hatte noch keiner gesehen, man kannte nur eine Art Geier, nicht größer als zwei Männerhände, und auch sie waren lange nicht mehr gekreist – nicht mehr, seit die Schänder, denen sie folgten, und die Heiligen Frauen vorm Westen hatten zurückweichen müssen. Aber auch Adler verhießen, und Möven, grüne Ufer. Verhießen Sterne, die nicht, wie selbst das Elend, wie die Regenzeiten, reguliert wurden; überm gesamten Osten knipste der Westen das Licht aus und knipste es um Arbeitskräfte an. Diesen seit AUFBAU OST fast vergessenen Zusammenhang entfachten Erissohns Verse in seinem Publikum aufs Neue. Das war explosiv, dachte Brem, das war für keinen ohne Gefahr, nicht für Buenos Aires, nicht für Prag Warschau Landshut. Nicht einmal die Amazonen mochten ahnen, dachte Cordes, wen sie hier erweckt hatten. Tatsächlich rührte drüben, während Herbst einmal mehr leicht durchsichtig wurde, nämlich von der linken Schulter körperhälftig abwärts bis zum Knie, Niam Goldenhaar einen Fuß, zusammengeringelt in der Duncker-Wohnung. Herbst bekam das nicht mit, weil er zu der Zeit, also jetzt, im SILBERSTEIN saß, aber tatsächlich: In den Berg Wäsche, den er für den Waschsalon vorm Kachelofen aufgehäuft hatte, kam für einen Moment Bewegung. Leicht glitt eine Socke von oben herunter. So ein Sprengstoff geht also, dachte Brem, schon schnell einmal in der Hand dessen los, der ihn wirft. Und er wurde zum ersten Mal an diesem Abend unruhig, zum ersten Mal seit Monaten und, wenn Brem ehrlich war, und das w a r er, sei je. Dabei hatte ihn Erissohns Blick noch gar nicht getroffen und war ihm nicht erschienen wie in Garraff der Hundsgott. Denn das war ganz dasselbe gewesen, dachte ich, dieselbe Art Explosion eines Fremden im Eignen, die es von sich schleudert, doch zu spät, so daß es immer noch, ja je eigentlich geringer, desto subversiver nach diesem Hundsgott roch:; Zeuners Benzoe Supreme
brachte, als düngte sie Morcheln, den fiesen Kapitel 20 Gestank erst zu einer Blüte, die nicht eitel gespreizt wie bei Zierblumen war, sondern sich nachtschattenartig verbarg. Und nur noch mehr lief die Zeuner mit Gießkannen rum. Das war schon in sich selbst ein Akt olfaktorischer Verzweiflung, unter der nun Lerche, weil er nur passiv an ihr teilnahm, ganz besonders verzweifelte. Dennoch war er lange Zeit besten Willens und versuchte, die Angelegenheit gütlich zu diskutieren, verglich den dünnen kräusligen Duft-Fog mit dem fraglos die Umwelt schädigenden Genuß von Tabak, der bei der CYBERGEN selbstredend verboten war. Er suchte nach Statistiken, die bewiesen, daß solche Duftstoffe karzinogen waren usf. Schließlich half nichts anderes, als hinter dem Rücken seiner Vorgesetzten eine Eingabe an die Firmenleitung zu machen. Das verbesserte die Arbeitssituation freilich nicht, zumal Lerche, weil er für seine Testreihen neue Avatare suchen mußte, sowieso schon nervös war. Einzig der Blick auf die nunmehr 43 Kerben an der Vorderseite seines Keyboards tat ihm gut, und er konnte sich dann damit beruhigen, daß es wenige kybernetische Forscher mit einer ähnlich hohen „Abschußquote“ gab. Aber das war nur vorübergehend und mit einer letztlich schalen Befriedigung verbunden. Denn daß aus den 29 diese 43 geworden waren, lag ja weniger an seinem Talent als an einer Notwendigkeit, die er zwar selbst gesetzt hatte, die sich seinem Jagdglück aber nur indirekt zurechnen ließ. So zynisch Lerche einerseits war, so wenig andererseits tendierte er zur Selbsttäuschung. Wer jemanden begreifen will, muß versuchen, ihn auch dann vorurteilslos zu erfassen, wenn er ihn nicht mag, ja abscheulich findet. Wie Cordes und ich, darin mit Deters völlig einig, diesen Lerche, dessen 28. Kerbe sozusagen der präparierte Kopf Corinna Frielings war, den er sich an die innere Hauptwand seines nicht nur unrührbaren, sondern auch undurchdringlichen Selbstbewußtseins gehängt hatte. Den besuchte er wie einen Repräsentationsraum, in dem Machthaber Audienzen gewähren, täglich mindestens dreimal selbst. Scharrte mit dem Kratzfuß und blickte, Souverän zugleich wie Untertan, als jener stolz und als dieser beeindruckt zu der Trophäe hoch. Man nahm sie der Frieling, abermals sozusagen, am Abend des 6. Novembers ab. Also metaphorisch. Und eben nicht die linke Brust. Wenigstens insofern, nämlich als Frau, s i e g t e sie über Lerche. Nur daß dieser zumal mit derartigen physischen Schmerzen bezahlte Triumph dem Forscher weit über seinen Horizont ging. Sonst hätte er nach Corinna Frielings Tod schon aus Scham davon abgesehen, die Kerbe anzubringen; Scham aber kannte er nun gerade nicht.