„Zum Beispiel. Und es gibt Lupen für das sehr Große. Fällt euch eine ein?“
Jascha druckste.
„Was denn für eine?“ fragte mein Junge.
„Na? Womit macht man sehr entfernte Dinge, e n o r m e Dinge, sichtbar? Auch die größten Gegenstände wirken ja, sind sie sehr sehr weit weg, ziemlich klein… oder man sieht sie gar nicht…“
„Du meinst ein Fernrohr.“
„Genau! Und davon gibt es monströse Apparate, so groß wie Häuser. Ihre Funktion ist aber ganz dieselbe wie die einer Lupe und auch dieser Nebelkammer.“
„Was ist Funktion, Papa?“
„Für was etwas gemacht ist. Oder wofür man es brauchen kann. Deine Hände haben, unter anderem, die Funktion, etwas anfassen zu können.“
Ich mußte daran denken, wie ich mit dem Jungen im Schwarzwald gewesen war und wie er da – bewußt – zum ersten Mal eine Bergwiese gesehen, bewußt gesehen hatte. ‚Heute war der Tag’, hatte ich seinerzeit notiert, ‚an dem Adrian zum ersten Mal eine Wiese sah. Und i c h – sah sie zum z w e i t e n Mal zum ersten Mal.’ Auch Kinder sind eine Art Lupe.
„Hat es also Sinn, eine Lupe aus dem Fenster zu werfen?“ fragte ich.
Beide schüttelten entschieden den Kopf.
„Das wäre ziemlich blöd“, sagte mein Junge, „von den Leuten.“
„Genau,’ sagte ich. „Das genau ist das Wort. Letztlich ist der Realismus blöd. Und merkt es euch für alle Zeit: An etwas vorbeizugehen, ohne hindurchzugucken, ist genau so eine Art, etwas aus dem Fenster zu werfen.“
Jascha, indem er sich ein wenig irritiert umsah: „Aber wo soll man z u e r s t hindurchsehen?“
„Einiges gehört
enger zusammen als anderes, dachte 22. Kapitel Cordes. Gehörte zusammen wie mein Sohn und ich, wie meine Frau und ich, so daß man, treibt die Kraft einer Explosion einen so furchtbar auseinander wie uns, leidet; und es wäre die Aufgabe eines Vergessens, dieses Leid zu mildern. Aber dann, dachte ich, ginge man ebenfalls an der Lupe vorüber, sähe ganz absichtlich nicht mehr hinein. Blöd zu sein ist, dachte Cordes, manchmal eine Notwendigkeit – womit er nun, dachte Herbst, dem Realismus die einzige Rechtfertigung gab, die er hat. Manches gehöre, nahm Cordes deshalb den Faden wieder auf, zusammen wie Broglier und Dorata und von nun an wie Deidameia und Kumani… nämlich weil Energie in geschlossenen Systemen nicht verlorengeht. Deshalb kann angenommen werden, es habe sich auf diese beiden übertragen, was in Dolly und John die tödliche Krankheit schließlich ausblies… hat sich auf sie gestürzt, weil es die n ä c h s t e n Träger suchte, in denen es sich abermals realisieren konnte. Zum Beispiel sind auch das solche Nebelspuren, die, ohne daß wir sie sehen, auf uns wirken. Plötzlich spürt man sie und schreitet schräg über die calle dels Escudellers auf die Frauen zu. „Guten Abend. Sie sind keine Prostituierte. So sieht eine Prostituierte nicht aus.“ „Sie sehen nicht wie ein Mensch aus.“ So daß in Deidameia und Kumani ganz die gleiche Liebesgeschichte losging, weiterging, die schon in den beiden anderen Fortsetzung Reinkarnation, oder was immer, gewesen war. Es gibt auch Nebelkammern der Gefühle: Du betrittst irgend einen Raum, sagen wir: ein Museumsfoyer oder den Empfang eines Literaturhauses, und drüben, keine fünf Meter weiter, steht sie. Ihr blickt euch an und wißt. Dann ist es wieder d a, auch wenn man sich wegdrehen sollte voneinander, weil die Umstände eine solche Attraktion nicht oder nicht mehr wollen oder sie nicht erlauben. Dann sucht die Zerfallsspur eben weiter, bläht sich in den wiedernächsten, die sich w i e d e r angesehen haben. Das gelte, dachte Herbst, nicht allein für die Liebe, das gelte für zahllos anderes: für Familienmuster und Muster überhaupt, für Klänge Bildmotive Gelächter. Für Tränen oder eine bestimmte Art Hunger. Für den Ausdruck von Stolz, den Frau Kumani in ihrem Gesicht trug, als sie zusah, wie ein Geschenk nach dem anderen aus dem Zimmer – meinem Mann hinterher, dachte sie – verschwand, und ehrfurchtsvoll waren die Freunde, als sie sich noch einmal Begegnungen Gespräche Umarmungen mit dem Davongegangenen vergegenwärtigten. Auch die Geschenke waren Nebelspuren, nachdem nun Kumani senior ebenfalls nur noch Nebelspur und schon – so plötzlich, dachte Frau Kumani – von ihnen allen gangen war.